Ursachen der Jugendverwahrlosung
Von Friedrich Liebling
veröffentlicht in: Neue Zürcher Zeitung NZZ, 21. Oktober 1962
In den Berichten über verwahrloste Jugendliche taucht oftmals der Begriff der "Psychopathie" auf. Damit soll angedeutet werden, dass die jungen Menschen, die in irgendeiner Weise aus dem Rahmen fallen, an angeborenen Persönlichkeitsdeformationen leiden. Diese Auffassung, die vor Jahrzehnten noch allgemein vorherrschend war, ist jedoch in der letzten Zeit als irrtümlich und oberflächlich erkannt worden.
Vor allem die Tiefenpsychologie hat uns gezeigt, dass die Vergangenheit mit dem «Psychopathieverdikt» allzu leichtfertig umsprang. Jede Charakteranomalie, die der Untersucher nicht auf bestimmte Lebensumstände zurückführen konnte, galt als «psychopathisch», womit die Sache erledigt und abgetan war.
Erst neuere Untersuchungen haben uns gelehrt, dass auch die scheinbar angeborenen Charaktervarianten auf Erziehungs- und Kindheitssituationen zurückgeführt werden können, hauptsächlich dann, wenn die Untersuchung mit den Hilfsmitteln der tiefenpsychologischen Forschung unternommen wird.
Diese unterscheidet sich von den älteren Methoden dadurch, dass sie das Innenleben und den Werdegang des seelisch irritierten Menschen mit besonderer Feinheit erfasst; in ihrem Lichte erweist sich vieles als entwicklungsbedingt, was früher kurzerhand der «Vererbung» zugewiesen wurde.
Mit der Annahme von «vererbten Persönlichkeitsdeformationen» sollten wir in Zukunft äusserst vorsichtig sein; derartige Auffassungen lenken leicht von gesellschaftlichen und erzieherischen Missständen ab, indem sie die mehr oder minder unfassbare «Erbsubstanz» für Mängel haftbar machen, die in den sehr fassbaren Erziehungs- und Milieufaktoren begründet sind.
Das Ergebnis tiefenpsychologischer Forschungen weist allgemein darauf hin, dass die Verwahrlosung in den allermeisten Fällen nicht auf organische oder hereditäre Belastung zurückgeht.
Dieser Irrtum war naheliegend, weil man oft in den Familien verwahrloster Jugendlicher auch haltlose Erwachsene vorfand. Daraus schloss man unwillkürlich, dass eine Erbeigenschaft vom trinkenden Vater auf den herumstreunenden Sohn oder die sittenlose Tochter übergegangen sei: Man vergass, die zermürbende Wirkung eines geschädigten Milieus in Rechnung zu stellen, das, häufig von frühester Kindheit an auf den äusserst beeinflussbaren Jugendlichen suggestiv einwirkt.
Bei genauerem Studium enthüllen die Biographien verwahrloster junger Menschen, unter welch schwierigen und mitunter katastrophalen Verhältnissen diese aufgewachsen sind: Der Lebenslauf solcher auf Abwege geratender Heranwachsender mündet oft so folgerichtig in das asoziale Verhalten ein, dass es unnötig erscheint, auf die «schlechten Anlagen» zurückzugreifen.
Bei einer einigermassen einfühlsamen Betrachtung muss man stets in solchen Fällen erkennen, dass das Mass von Überbürdung und seelischer Verletzung in den Jugendjahren durchaus ausreicht, um die Charakter- und Verhaltensstörungen zu erklären.
Heimatlosigkeit des Kindes
Wir sind heute der Auffassung, dass die wichtigste Quelle der Jugendverwahrlosung in der seelischen Heimatlosigkeit im Kindesalter besteht. Es ist heute bekannt, welche ungeheure Bedeutung dem kindlichen Geborgenheitsgefühl für Wachstum und Entwicklung des jungen Menschen zukommt.
Das Menschenkind ist mehr als alle anderen Lebewesen in seinen Kindheitsjahren liebesbedürftig: Es braucht Schutz und freundliche Führung, um in die äusserst komplizierte Menschenwelt hineinwachsen zu können. Wo es in den Erwachsenen frühzeitig infolge Lieblosigkeit oder Unzuverlässigkeit den «Gegenspieler» erkennt, schliesst es sich von seiner Umwelt ab und verfällt einer Isoliertheit, die von der verständnislosen Umgebung kaum je in ihrer Tragweite. erkannt wird.
Der kindliche Charakter entfaltet sich dann auf den Bahnen der Egozentrizität, die meistens durch Angst und Trotz zum Vorschein kommt. Die entscheidende Konsequenz dieser Konstellation ist schliesslich die allgemeine Anpassungsstörung: Das seiner Umwelt entfremdete Kind lernt sich nicht richtig mit der Welt auseinanderzusetzen, scheitert oft schon an der Beherrschung seiner Organfunktionen (Bettnässen, Stottern, Daumenlutschen, Obstipation, motorische Ungeschicklichkeit usw.) und lässt in seinem ganzen Gehaben erahnen, dass es sich unter den Mitmenschen «wie in Feindesland» befindet.
Kindergarten und Schule als eine Art «Testprobe» zeigen oft schlaglichtartig den Mangel an Einfügung ins mitmenschliche Leben, den solche Kinder aus ihrer Familiensituation an ihre Lebensaufgaben herantragen. Untüchtige Schüler, Träumer, streitlustige «Schläger», unruhige Clowns und Faxenmacher, die dem Lehrer mitunter das Leben sauer machen, sind bereits fehlorientierte Menschenkinder, die im häuslichen Milieu nicht zusammenarbeiten und zusammenleben geübt haben.
Aus solchen «Unangepassten», über die man früher mit dem ebenfalls recht fragwürdigen Begriff der «Unbegabtheit» hinwegging, können sich verwahrloste Jugendliche entwickeln, wenn nicht zur rechten Zeit seelenärztliche Hilfe eingreift, welche mitunter die Anpassungsschwierigkeiten mit wenig Aufwand in diesem Alter noch beheben kann.
Das Gefühl der Heimatlosigkeit ist für das Kind viel drückender, als sich dies der Erwachsene vorstellen kann. Wir müssen annehmen, dass Unlust und Angst immer dann vom Kinde Besitz ergreifen, wenn es sich mit seiner Umgebung nicht im Einklang weiss.
Ein solcher Zustand ist für das Menschenkind auf die Dauer unerträglich. Er fordert gebieterisch nach Abhilfe und Ausgleich. Wir sollten lernen, die kindlichen Reaktionen, die dem moralistischen Betrachter als «böse», «unordentlich» und «faul» erscheinen, als verzweifelte Antworten auf Angst und Orientierungslosigkeit zu verstehen.
Wenn ein Mensch verwahrlost, dann handelt er aus einer Situation heraus, aus der er tatsächlich keinen anderen Ausweg mehr sieht. Dies gilt für das Kind nicht weniger als für den Erwachsenen. Der Anblick solch menschlicher Fehlschläge sollte uns nicht zu überheblichen Selbstgerechtigkeiten, sondern zu Mitleid und einfühlendem Begreifen führen.
Dass die Verwahrlosung aus Milieu und Erlebnis entsteht, lässt sich unter anderem auch daran erkennen, dass die «unehelichen Kinder» dreimal mehr Verwahrloste und später Kriminelle stellen als Kinder aus regulären Ehen. Es wird niemand den banalen Schluss ziehen wollen, dass eben uneheliche Kinder «von anderer Substanz» seien als die Ehelichen: Man muss sich vielmehr daran erinnern, dass solche Jugendliche oft von Kindheit an «verschupft» und «umhergeboten» werden, dass ihnen in der Regel verlässliche und stets für sie anwesende Erwachsene fehlen und dass sie daher die Normen einer Umwelt, in der sie nicht heimisch sind, bald abzulehnen oder zu umgehen lernen.
Eine ähnliche Situation findet sich mitunter auch bei «zugewanderten Familien», denen die Einordnung in ihre neue Umwelt nicht so recht gelingen will. So sind uns Fälle bekannt, wo etwa Ausländer im dörflichen Milieu (oder auch in der Kleinstadt) stets als die «Fremden» betrachtet wurden: Was die Erwachsenen zwar mühsam, aber gefasst hinnahmen, indes die Kinder unter dem Spott und Vorurteil ihrer Altersgenossen (und nicht nur dieser) sehr zu leiden hatten. Kleine Kindheitsvergehen, die diese Kinder zusammen mit «Einheimischen» begangen hatten, wurden bei ihnen viel schwerer bewertet als bei den Kindern der «achtbaren Bürger»: Das ganze Instrumentarium der Strafen und Verachtungen fiel auf sie herab und brachte jene «Heimatlosigkeit» mit sich, die sich nicht nur in der Familie, sondern auch im sozialen Kollektiv abspielen kann.
Soziale Minderheiten, die von der einheimischen Bevölkerung geringgeschätzt werden, sind bekanntermassen die Brutstätten von Verwahrlosung und Verbrechen: In den Vereinigten Staaten ist diese Beobachtung tausendfältig gemacht worden.
Familiennöte
Aber die «Heimatlosigkeit» betrifft keineswegs nur die «Unehelichen» und die «Fremden unter den Einheimischen»: Sie ist auch ein Faktum inmitten des scheinbar geordnetsten Familienlebens. Der flüchtige Beobachter mag einer Familie alle Attribute der Anständigkeit und Ordentlichkeit zugestehen, die Ehrbarkeit des Vaters und die Umgänglichkeit der Mutter rühmen: Und doch können sich auch in solchen Familien geheime Tragödien abspielen, die nur der Seelenarzt kennenlernt.
So etwa bedeutet die Ehe der Eltern einen Umweltfaktor für das Kind, der von ungeheurer Tragweite für seine seelische Entwicklung ist. In vielen Fällen ereignen sich die Streitigkeiten und Auseinandersetzungen der Eheleute vor den Augen der Kinder, die hierdurch mit grössten seelischen Traumen (Verletzungen) belastet werden.
Aber auch in zerstrittenen Ehegemeinschaften, wo vor den Kindern der konventionelle Schein gewahrt wird, liegt die Situation oft nicht besser: Gleich einem Seismographen spürt das Kind die Gefühlslage seiner Erzieher, und hinter der Fassade mag es die Leere und Hohlheit erahnen, die ihm das Gefühl der Geborgenheit verunmöglicht. Dass solche Kinder innerlich zerbrechen können, sollte uns nicht wundern. Ihre Verwahrlosung ist eine innere Auflehnung gegen unhaltbare Umweltsituationen: Kennt man diese nicht, dann hält man das Kind für «psychopathisch» oder «anlagemässig verdorben».
Der Tiefenpsychologe weiss, dass viele Kinderdelikte (Lügen, Stehlen) ein verzweifeltes Liebesverlangen zum Ausdruck bringen können. Wer dann mit drakonischen Strafen über ein derart unglückliches Kind richtet, bessert die Situation des Ungeliebtseins keineswegs: Auch die Drohung mit «zukünftigem Verbrechertum», anlässlich harmloser kindlicher Vergehen meist freigebig ausgeteilt, ist erzieherischer Unsinn und verschärft die Verwahrlosung, der sie Einhalt gebieten will.
Unter den Verwahrlosten finden sich oft auch eifersüchtige und neidische Jugendliche, die ein Geschwister um dessen angeblich oder wirklich bevorzugte Stellung beneiden. Wir müssen lernen, in der Eifersucht des Kindes ein Unsicherheitsgefühl zu sehen, das mit Vorhaltungen und Gemeinplätzen nicht kuriert werden kann.
Wenn sich das Kind gegenüber seinen Geschwistern benachteiligt fühlt, mag es durch Verhaltensstörungen und Unangepasstheiten aller Art sein Unbehagen kundtun: Eine nicht seltene, aber ungünstige Folge ist die, dass die Erzieher den Eifersüchtigen noch mehr isolieren, indem sie ihm die beneideten Geschwister als Muster und Vorbild vor Augen führen, was Hass und Neid zur Siedehitze treiben kann.
So sind uns Fälle bekannt, wo Jugendliche infolge ihrer eifersüchtigen Gefühlslage alle Äusserungen und Ratschläge ihrer Eltern in den Wind schlagen: Ihr Hass und ihr Neid musste erst beschwichtigt werden, indem man ihre Eifersucht durch wohlwollende Besprechungen auf ein erträgliches Mass herabminderte. Das Grundgefühl solcher Kinder lässt sich etwa in die Worte fassen: «Ich gehöre sowieso nicht zur Familie». – «Was ich tue, ist immer falsch». – «Anstrengungen und Bemühungen haben für mich ohnehin keinen Sinn». – «Ich bin nun einmal das schwarze Schaf». – «Mich liebt keiner!"
Das Resultat solcher Gefühlshaltungen, die grösstenteils unbewusst bleiben, ist dann der groteske, aber einfühlbare Entschluss: «Wenn sie mich schon für schlecht halten, so will ich es auch sein!» Und das verwahrloste Gebaren, entspringend aus Verzweiflung und Selbstaufgabe (nicht etwa aus Hochmut und Schlechtigkeit), ist im Grunde ein krankhaft deformierter Appell an die elterliche Liebe und Duldung, die der Verwahrloste so schmerzlich entbehrt.
Die Erzieher wären besser beraten, wenn sie in Unarten und Fehlern der Jugendlichen das Spiegelbild unseres allgemeinen psychologischen Unwissens sehen würden. Erziehung ist eine grosse Kunst, die heute erst in fassbare Regeln eingekleidet werden kann. Bis anhin wurde sie kaum gelernt, meistens wurde sie dem Zufall überlassen. Daher waren die Eltern kaum darauf vorbereitet, mit einem schwierigen Kinde umzugehen. Wich das Kind vom Wege der Ordnung und des Durchschnitts ab, so setzten oft verzweifelte Erziehungsbestrebungen ein («Wir haben alles versucht, aber nichts hat genützt!»), die in der Regel das Übel verschlimmerten.
Daher werden meistens aus schwierigen Kindern verwahrloste oder neurotische Jugendliche: Die ersteren rebellieren offen gegen die Umwelt, während letztere ihr Leid in Ängsten und Hemmungen herumtragen, die oft ein Leben lang bestehen bleiben, sofern der Betreffende nicht durch psychotherapeutische Hilfe geheilt wird.
Noch eine weitere Ursache der Verwahrlosung müssen wir erwähnen, um das Bild vollständig zu machen: Dieser Faktor ist so bedeutend wie alle bereits erwähnten Umstände. Wir denken hier an die Verwöhnung, die ebenso wie Härte und Lieblosigkeit an der Entstehung der verwahrlosten Lebensführung beteiligt ist.
Häufig findet man unter entgleisten Jugendlichen verzärtelte Menschen, die in der Treibhausatmosphäre ihrer familiären Umwelt nicht gelernt haben, ihre Wünsche im Zaum zu halten. Fast immer kombinieren sich Verwöhnung und Lieblosigkeit in einer schwer entwirrbaren Mischung: Was dem Kinde an echter Liebe entzogen wird, kompensiert man durch Verhätschelung und Affenliebe, die zur Geborgenheit des Kindes gar nichts beiträgt.
Daher denn auch die Fälle von Verwahrlosung aus sogenanntem «bestem Milieu», die man mit den alten sozialkritischen Auffassungen (die damals mit Recht vor allem die Armut und materielle Not als Ursache der Verwahrlosung und des Verbrechens betonten) nicht erklären konnte. Für die Tiefenpsychologie ist der Verwahrloste aus den «besseren Kreisen» kein Rätsel: Man darf sich durch den Glanz der materiellen Fassade nicht täuschen lassen, wenn man die Tragfähigkeit eines Familienfundamentes psychologisch bewertet.
Erzieherische Massnahmen
Gesamthaft gesehen ist die Verwahrlosung ein Ausbruch aus der sozialen Umwelt, die der Jugendliche nicht als zuverlässig und bergend erfahren hat. Da er diese Welt als feindlich und lieblos erlebt hat, sieht er nicht ein, warum er deren Werte und Verhaltensnormen als gültig anerkennen soll: Wer ihm diese dann gewaltsam aufzwingen will, verstärkt noch diesen Eindruck und muss erzieherischen Schiffbruch erleiden.
Man sollte sich an die alte psychologische Einsicht erinnern, dass der Mensch nur jenen glaubt, die er liebt oder bewundert. Wenn der Verwahrloste durch seine erdrückenden Kindheits- und Jugendsituationen keinen Erwachsenen lieben oder bewundern gelernt hat, so mag ihm wohl sein «Bandenführer» oder die Summe der Bandenmitglieder imponieren, die für ihn stellvertretend «elterliche Autorität» annehmen.
So muss man ihm zuerst eine neue Wertewelt vermitteln, bevor man den Verwahrlosten in die Gemeinschaft zurückführen kann. Er soll zunächst so angenommen werden, wie er ist: Man muss «auf seiner Seite» stehen, um ihn aus seinen Irrwegen herausführen zu können.
Darin liegen wohl die Chancen aller heilpädagogischen und psychotherapeutischen Einwirkung, sei diese auf ein Heim oder auf das Familienmilieu hin orientiert. Die Psychotherapie ist in solchen Fällen bemüht, das häusliche Milieu - das in der Regel ebenso krank ist wie der verwahrloste Jugendliche – in seiner Gesamtheit zu erfassen und helfend einzuwirken. Dann kommt alles darauf an, dass man das Vertrauen des Verwahrlosten erwirbt: Ein ungemein schwieriges Unterfangen mitunter, wie jeder Erfahrene weiss.
Und doch ist es oft leichter, als die Erzieher meinen. Die Verwahrlosten sind meist so liebeshungrig, dass sie auf Verstehen und echtes Wohlwollen mit Begeisterung und Aufgeschlossenheit reagieren können. Nur darf sich der Seelenarzt oder Heilpädagoge nicht beirren lassen, wenn seine Bemühungen nicht sofort Anklang finden.
Wer vielfach enttäuscht worden ist, hat gar keinen Grund, auf den «ersten Anhieb» Vertrauen zu spenden. Im Gegenteil: In den «Rückfällen» verwahrloster Jugendlicher liegt oft eine unbewusste Prüfung für den Erzieher, ob dieser nun «wohl auch versagen wird». Dem Jugendlichen wäre dies teilweise nicht ganz unwillkommen, weil dies seine Haltung und Einstellung bestätigen würde.
Es sei an dieser Stelle an das berühmte Experiment erinnert, das der Wiener Tiefenpsychologe August Aichhorn* um 1920 in seinem Heim Oberhollabrunn bei Wien durchgeführt hat. Indem er konsequent die jugendlichen Verwahrlosten, unter denen sich bereits Kriminelle befanden, gemäss dem Prinzip «absolute Güte und Milde, Gewaltlosigkeit und Verstehen um jeden Preis» behandelte, gelang es ihm, asoziale Menschen zu wertvollen Mitgliedern der Gemeinschaft zu machen.
Asozialität ist kein Anlass, um über einen Menschen den Stab zu brechen. Wer von der Gemeinschaft abgeirrt ist, soll nicht verurteilt werden, sondern durch sachgemässe Führung und Unterweisung, die am besten durch den geschulten Psychotherapeuten geschieht, für die Gemeinschaft wiedergewonnen werden.
Friedrich Liebling (1893 - 1982) war Gründer und Leiter der Psychologischen Lehr- und Beratungsstelle Zürich, auch “Zürcher Schule für Psychotherapie” genannt.
Der Artikel ist erstmals erschienen in der Neuen Zürcher Zeitung NZZ vom 21. Oktober 1962, sowie in der tiefenpsychologischen Monatszeitschrift “Psychologische Menschenkenntnis” 1/1964-65, S. 33 - 39, Publikationsorgan der Psychologischen Lehr- und Beratungsstelle Zürich, die auch "Zürcher Schule für Psychotherapie" genannt wurde.
Faksimile des Artikels in der NZZ
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*August Aichhorn
27.07.1878, Wien – 13.10.1949, Wien
Aichhorns Bedeutung für die Verwahrlostenerziehung überhaupt liegt in der beispielhaften Anwendung der Tiefenpsychologie im Bereiche einer Fürsorge, die den Jugendlichen in seinen Entwicklungsschwierigkeiten begreift und ihm auch zu helfen imstande ist. Das Prinzip der Gewaltlosigkeit in der Erziehung, wie im Strafvollzug hat seit dem Oberhollabrunner-Experiment durch tiefenpsychologische Bestrebungen in Theorie und Praxis in der ganzen Kulturwclt große Fortschritte gemacht; zahlreiche Strafanstalten werden heutzutage nach psychologischen Gesichtspunkten aufgebaut, und die Erfahrung lehrt, dass die Abschaffung von Zwangsmaßnahmen bessere und dauerhaftere Erfolge sichert.
Eine Welt, die dem Asozialen nicht einfach das Kainsmal auf die Stirn setzt, wird mehr und mehr danach trachten, an Stelle von Strafen die Heilung zu setzen und niemand hat es nötiger geheilt zu werden als der Verwahrloste, den man ein Stiefkind der Gesellschaft nennen kann.
In seinem schönen und aufschlußreichen Buch “Verwahrloste Jugend” hat August Aichhorn sich selbst und seinen Bemühungen ein unvergängliches Monument geschaffen; aus den Schilderungen dieses wahrhaft großen Menschen und Erziehers tritt uns das Bild einer Persönlichkeit entgegen, deren Verhalten gegen die Pflegepersonen - wie Sigmund Freud in seinem Geleitwort zur “Verwahrlosten Jugend" sagt -„aus der Quelle einer warmen Anteilnahme am Schicksal dieser Unglücklichen entsprang und durch eine intuitive Einfühlung in deren seelische Bedürfnisse richtig geleitet wurde".
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August Aichhorn wurde am 27. Juli 1878 in Wien geboren. Als junger Mann wählte er den Beruf eines Lehrers an der Wiener Volksschule, enfaltete aber auch frühzeitig eine soziale und fürsorgliche Aktivität, so daß ihn die Stadt Wien beauftragte, Erziehungsheime für Knaben zu organisieren. Im Jahre 1918 schuf er aus den Ruinen eines ehemaligen Flüchtlingslagers in Oberhollabrunn sein berühmtes Erziehungsheim, das in die Geschichte der Pädagogik unseres Jahrhunderts eingegangen ist.
In dieser Zeit trat er auch mit der damals aufstrebenden Psychoanalyse in Beziehung, ließ sich selber zum Analytiker ausbilden und wurde bald zu einem der aktivsten Vorkämpfer der tiefenpsychologischen Kindererziehung. Die politischen Verhältnisse in Österreich und Deutschland behinderten zwischen 1933 und 1945 die Ausbreitung der tiefenpsychologischen Erkenntnis; Aichhorn aber war in dieser Epoche der Barbarei bemüht, die Kontinuität der Praxis und Forschung aufrechtzuerhalten und wurde zu einem Mittelpunkt psychologischer Bestrebungen, vor allem auch zum verdientesten Förderer des psychologischen Nachwuchses.
Er wurde nach dem Weltkrieg zum Titularprofessor ernannt und war, sich dem Greisenalter nähernd, unermüdlich in seiner therapeutischen und lehrhaften Tätigkeit. Noch kurz vor seinem Tode leitete er einen psychologischen Kursus an der Universität Lausanne: Seine gütige und souveräne Menschlichkeit lieferte den lebendigen Beweis, daß die Tiefenpsychologie zu den bedeutsamsten Kulturbewegungen gehört, welche unser Jahrhundert hervorgebracht hat.
Auszug aus “Grosse Pädagogen”, S. 162- 163