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Fit fürs Leben – Erziehung in schwierigen Zeiten

von Dr. med. Andreas Bau, Schweizersholz 

Der vielleicht etwas saloppe Titel «Fit fürs Leben» darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir Eltern vor einer gewaltigen Erziehungsaufgabe bei unseren Kindern stehen.

Ich drücke mich deutlich aus. Die weltweit gegen geltendes Völkerrecht geführten Kriege einschliesslich der Folterung von Menschen zwingen uns zum Innehalten und zur Rückbesinnung auf den christlich abendländischen Wertekanon, vorrangig auf die Menschenrechte. Die globalisierte Wirtschaft dient nicht mehr dem Menschen, sondern sie bedient sich der Menschen als Humankapital. Die Globalisierung und die daraus entstehenden Kriege führen zu einer Verelendung grosser Teile der Welt, der reichen, aber besonders der armen Länder, allen voran der Entwicklungsländer. Immer mehr Familien in der ganzen Welt leben an oder unter der Armutsgrenze. Auch in Deutschland bringen Familienväter oft nicht mehr genug Geld mit nach Hause, um die Familie ausreichend zu versorgen. Die Mächtigen massen sich an, die Welt zu ihren Bedingungen auszuplündern.

Die 68er-Bewegung hat alle kulturellen Werte in Frage gestellt. Die Väter wurden als autoritär angeprangert und die antiautoritäre Erziehung eingeführt. Die Kinder sollten nicht mehr erzogen werden, sondern nur noch wie Pflanzen von Zeit zu Zeit gegossen werden. Der durch die 68er-Bewegung herbeigeführte Wertebruch wirkt sich bis heute auf die Kindererziehung aus. Vielfach haben Eltern das Gefühl, mit einer klaren Stellungnahme und klaren Zielvorgaben tue man dem Kind etwas an. Die antiautoritäre Erziehung hat sich in die Gemüter der Eltern eingepflanzt. Sie hat verheerende Folgen.

Es ist für jeden von uns überlegenswert, wie wir uns den anstehenden Fragen stellen. Insbesondere müssen wir die Fragen der Welt bei der Erziehung der Kinder immer gedanklich und gefühlsmässig dabeihaben. Nur so kann es uns gelingen, die Erziehung ernsthaft an die Hand zu nehmen.

Was müssen wir unseren Kindern mitgeben, um in dieser Welt zu bestehen?

Ich möchte im folgenden Grundlagen und Ziele der Erziehung darlegen, um die Frage zu beantworten: Was müssen wir unseren Kindern mitgeben, um in dieser Welt, wie ich sie oben skizziert habe, zu bestehen? Die wissenschaftlich belegten Aussagen über die Natur des Menschen liegen seit Jahren auf dem Tisch. So können wir uns bei der Erziehung unserer Kinder auf die empirisch erhobenen Befunde der Bindungstheorie und der Entwicklungspsychologie stützen. Ich möchte in meinem Beitrag das frühe Kindesalter in den Vordergrund stellen.

Was braucht also das Kind von klein auf, um die drei Grundpfeiler des Lebens – den Beruf, die Liebe und die Gemeinschaft – als Erwachsener sinngebend zu leben? Wie können wir das Verantwortungsgefühl der Kinder stärken, und wie fördern wir die Fähigkeiten der Kinder, das Zusammenleben menschlich zu gestalten?

Wir wollen bei den Kindern die Fähigkeiten entwickeln, mitzuhelfen, die Würde des Menschen in dieser Welt zu verwirklichen, und bei Unrecht, Not und Elend des Mitmenschen mitzuleiden. Wie verhelfen wir unseren Kindern dazu, dass ihnen unwürdige zwischenmenschliche Vorgänge im eigenen Umfeld, aber auch in der übrigen Welt, in China, in Afrika, im Irak zum Problem werden?

Die Wurzeln für eine Gewissensbildung und für die Fähigkeit mitzuempfinden, werden in der frühen Erziehung der Kinder gelegt. John Bowlby, Begründer der Bindungstheorie, hat frühe verlässliche Bindungen zumindest an eine Bezugsperson als Grundlage einer gesunden seelischen Entwicklung erkannt und wissenschaftlich belegt. Eine sichere Bindung ist die Grundlage seelischer Widerstandskraft.

Die Fähigkeit und Bereitschaft, auf das Leid eines anderen mit Mitgefühl und Hilfe zu reagieren, ist ein bedeutsamer Aspekt der sozio-emotionalen Kompetenz eines Individuums. Die moderne Hirnforschung hat gezeigt, dass es eine angeborene Disposition für prosoziales und sogar für moralisches Verhalten gibt. Es besteht ein Zusammenhang zwischen mütterlicher Feinfühligkeit und der Entwicklung von mitfühlend-prosozialem Verhalten. Dieses Verhalten beobachtet man bereits bei 2jährigen Kindern. Eine sichere Bindung, wie die Bindungstheorie belegt, ist die Voraussetzung für alle weiteren Schritte in der Entwicklung eines Kindes, in allen Bereichen, körperlich, emotional, intellektuell, sozial und moralisch. Mary Ainsworth, eine Mitarbeiterin von John Bowlby, bezeichnet die sichere Bindung als verlässliche Basis. «Die Bindungstheorie begreift das Streben nach engen emotionalen Beziehungen als spezifisch menschliches, schon beim Neugeborenen angelegtes, bis ins hohe Alter vorhandenes Grundelement.» (Bowlby)

Falsche Theorien, die die Erziehungsarbeit der Eltern heute störend beeinflussen

Die grundlegenden Forschungsergebnisse der Entwicklungspsychologie und der Bindungstheorie sind die gewichtigsten Argumente gegen die vielen falschen Theorien, die die Erziehungsarbeit der Eltern heute störend beeinflussen. Am Beispiel des Schnullers und des Schlafens werde ich Ihnen meine Aussage verständlich machen.

Die falschen Theorien haben weitreichende Folgen.

Ein Beispiel: Eine Mutter (40 Jahre alt) kommt mit ihrem erstgeborenen Sohn Sasha (wohlbemerkt ohne c) auf dem Arm in das Sprechzimmer eines Kinderarztes. Es soll die Zweijährigenvorsorge durchgeführt werden. Nach der Begrüssung der Mutter möchte der Arzt ihren Sohn begrüssen. Der Junge blickt ihn mit abweisender Mimik und kühlen Augen an, als wollte er sagen: «Lass mich in Ruhe, und komm mir nicht zu nahe.» Dabei spuckt er an seinem Schnuller vorbei auf den Arzt. Das ist seine Begrüssung. Die Mutter erklärt beflissentlich sein abweisendes Verhalten mit der Bemerkung, Sasha habe Angst vor dem Kinderarzt, was auch berechtigt sei. Schliesslich sei ein Besuch bei einem Arzt eine unangenehme Sache. Die verschiedenen sehr variationsreichen Versuche, mit dem Jungen näheren Kontakt aufzunehmen, scheitern. Im weiteren Verlauf erklärt die Mutter, warum Sasha sich nicht öffnen könne: Sie, die Mutter habe zwar eine Flasche mitgebracht, aber der Inhalt sei nicht der richtige, ihr Sohn benötige immer einen kleinen «Anwärmer».

Eine Untersuchung ist nicht möglich. Sprachlich kann Sasha nur das Wort «da» sagen. Er macht dabei eine Geste mit dem Zeigefinger. Auf Frage des Arztes an die Mutter, wie sie sich das Verhalten erkläre, hat sie eine Vielzahl von Argumenten. Sie vermeide jeden Widerspruch, indem sie alles erfülle, was ihr Kronprinz fordere. Ein Argument ist in diesem Zusammenhang besonders erwähnenswert: Im Alter von wenigen Tagen entwickelte ihr Sohn einen für das Alter physiologischen intensiven Hand-Mund-Kontakt. Er versuchte immer wieder unter grossem Kraftaufwand, die Hand oder die ganze Faust in den Mund zu stecken. Dabei sabberte er stark. Diesen natürlichen Entwicklungsschritt deutete die Mutter als unbefriedigtes Saugbedürfnis und als möglichen sehr frühen Zahndurchbruch. Auch sollte sich Sasha nicht so stark anstrengen. Dieser Gedanke ist falsch: Im Gegenteil, eigene Anstrengung ergibt Zufriedenheit über das erreichte Ziel, aber auch über den Beitrag für die gemeinsame Lebensgestaltung.

Auch das Einschlafen und das Schlafen sind Vorgänge, die aus der Eigenaktivität des Kindes erwachsen. Die Mutter probiert täglich eine Vielzahl verschiedenartiger Versuche, um Sasha zum Einschlafen und Durchschlafen zu bringen und sein Leben möglichst angenehm zu gestalten. Der Kinderarzt unternimmt den Versuch, den vielen falschen Theorien der Mutter etwas entgegenzusetzen. Es braucht eine Reihe von Gesprächen, um die vielen falschen Theorien zu widerlegen.

In Abgrenzung von der Psychoanalyse und der Verhaltenstherapie versteht Bowlby den Menschen nicht als triebgesteuertes Wesen. So spielt die Bedürfnisbefriedigung bei Bowlby keine Rolle. Die dauernde Verabreichung einer Flasche oder die Applikation eines Schnullers führt bei einem Säugling oder Kleinkind, heute auch nicht selten bei Kindergartenkindern, zur Befriedigung des vermeintlichen bestehenden Saugbedürfnisses, nicht aber zu einem Ausbau einer stabilen Beziehung zu ihren Müttern. Die falsche Theorie über die menschliche Natur ist eine bedeutende Ursache dafür, dass die dauernde Befriedigung aller vermeintlich lebensnotwendigen Bedürfnisse eines Säuglings, eines Kindes und auch eines Jugendlichen einen so breiten Raum einnehmen konnte. Ich möchte die provokante Arbeitstheorie in den Raum stellen: Wir leben im Zeitalter der Bedürfnisbefriedigung.

Die Verabreichung des Schnullers behindert den Ausbau einer verlässlichen Basis, da sie die Eigenaktivität des Kindes hemmt. Dennoch ist der Dauergebrauch des Schnullers oder einer Flasche zu einer festen Einrichtung bei der Betreuung von Kindern geworden. Der Schnuller dient der Vermeidung eines möglicherweise bevorstehenden Widerspruchs oder einer Unmutsäusserung des Kindes. Dem liegt die falsche Theorie zugrunde, dass das Kind immer zufrieden sein muss. So erschwert sich für die Mutter auch der Lernprozess herauszufinden, wie sie die Signale des Säuglings deuten soll. Ist es Hunger? Ist die Windel nass? Möchte der Säugling Zuwendung in Form von zärtlichem Schmusen, Zwiesprache, Vorsingen oder anderen Formen der Beziehungsaufnahme? Die Möglichkeiten eines emotionalen Austausches sind vielfältig und ändern sich im Verlaufe der Entwicklung. Störende Gefühle der Mutter wie die allzu bemühte Verhinderung einer Unzufriedenheit beim anderen Menschen durch voreilige «Befriedigung» seiner erahnten Bedürfnisse verhindern eine Entfaltung ihrer natürlichen Mütterlichkeit und haben weitreichende Folgen.

Grundlagen der Erziehung

Nun zu einigen Grundlagen der Erziehung. Der Mensch ist, entgegen der Annahme von Sigmund Freud, kein triebgesteuertes Wesen. Fähigkeiten und Gefühle entwickeln sich im Verlauf des Lebens und werden nicht vererbt. Auch das Gefühl, ob sich ein Kind für intelligent und schlau hält, entwickelt sich.

Vom ersten Atemzug an braucht das Kind ein liebevolles, festes zugewandtes menschliches Gegenüber. So ist es in der frühen sensiblen Phase der Entwicklung von grosser Bedeutung, dass die Mutter mit ihrer ganzen Persönlichkeit frei von störenden Gefühlen präsent ist. Das gesunde Neugeborene ist mit vielfältigen Fähigkeiten und Reaktionen ausgestattet, die die Entstehung einer sicheren emotionalen Bindung begünstigen. Eine sichere Bindung legt die Grundlagen für die Integration auch widersprüchlicher Gefühle im Einklang mit der Wirklichkeit. Im Wechselspiel mit der Beziehung zur Mutter werden diese Fähigkeiten ausgebaut. Dabei ist ein adäquates Echo der Mutter auf die Reaktionen des Kindes unerlässlich. In einem guten emotionalen Wechselspiel erlebt das Kind, verstanden zu werden, ein Echo auf seine Aktivitäten zu erhalten und bei der Mutter einen emotionalen Rückhalt zu haben. Nur so entsteht beim Kind eine tief im Gefühl verankerte, auf Werte begründete Festigkeit, ein Persönlichkeitskern. Die Eigenaktivität stärkt das Selbstwertgefühl. Die Grundlagen für diese Haltung werden in der frühen Kindheit, abhängig von der Persönlichkeit und der Gefühlsdisposition der Mutter gelegt. So hat sich ein Säugling bereits mit zwölf Monaten ein Bild von der Welt gemacht und ist zu einem aktiven Mitspieler geworden. Der Säugling und das Kind schliessen sich ihren Eltern, die ihr Leben sinnvoll und aktiv-vorausschauend führen, an. Die Eltern bilden mit dem Kind ein Bündnis mit dem Gedanken: Wir gehen den Weg gemeinsam.

Und die Gefühle der Mutter

Jetzt noch einige Worte zu Gefühlen der Mutter, die bei der Anleitung der Kinder stören.
Ein häufiges Gefühl ist, als Mensch nicht zu genügen und die Sorge, alle schlechten Eigenschaften kommen jetzt ans Tageslicht. Oder das Gefühl, bei den kleinsten Auffälligkeiten des Kindes, als Mutter versagt zu haben. Das Gefühl einer Mutter, ihr Kind verzärteln und ihm jedes Steinchen aus dem Weg räumen zu müssen, führt zu einer Unselbständigkeit und Entmutigung des Kindes. Ein Vorgreifen der Mutter hemmt die Eigenaktivität des Kindes. Wie soll ein Kind sein Leben aktiv und eigenständig führen, wenn die Mutter, aber auch der Vater das Kind symbiotisch auf sich ausrichten?

An einem Beispiel aus der Praxis möchte ich meine Aussagen mit Leben füllen.

Eine achtzehnjährige Mutter bekommt einen Sohn. Sie hat sich zutiefst eine Tochter gewünscht. So ist ihre Enttäuschung gross. Ihr Freund, der Vater des Kindes, hat sich von ihr, als er erfuhr, dass sie schwanger ist, getrennt. Die junge Mutter fühlt sich sehr allein gelassen. Auch gelingt es ihr nicht, das Kind zu stillen. Ihr Sohn, ich nenne ihn Paul, beginnt im Alter von 3 Wochen täglich langanhaltend zu schreien, und sie kann ihn nicht beruhigen. Da Paul seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich sieht, denkt sie, alle schlechten Eigenschaften seien vom Vater vererbt worden. So steht sie dem schreienden Kind ohnmächtig gegenüber. Sie fühlt, als Mutter zu versagen, und entwickelt Hassgefühle auf ihren Sohn. Paul entwickelt sich zu einem «Schreibaby», das heisst, er schreit täglich mehr als 5 Stunden. (Es gibt in Deutschland in fast allen grossen Städten eine spezielle Sprechstunde für «Schreibabys».)

Die junge Mutter überlegt in ihrer Hilflosigkeit, ihren Sohn zur Adoption freizugeben. Von mehreren Kinderärzten erhält sie den Rat: Das Schreien sei normal und wachse sich aus. Auch in einer Schreisprechstunde gelingt es nicht, ihre Beziehung zu Paul zu richten. Die Mutter wechselt zu einem Kinderarzt, dem es gelingt, ihr zu helfen. Er erhebt eine genaue Vorgeschichte und erklärt ihr den Zusammenhang zwischen ihren Gefühlen und dem Schreien ihres Sohnes. Paul beruhigt sich umgehend. Bei der Mutter wächst langsam das Gefühl, doch eine gute Mutter zu sein und bei der Anleitung ihres Sohnes viel in der Hand zu haben. Sie schliesst mit ihrem Sohn Freundschaft.

Unsere Aufgabe als Erwachsene ist es, all unser Wissen, unsere Lebenserfahrung, unsere gefühlsmässige Anteilnahme als Vorbild in die Waagschale zu werfen. So steht auch die Frage im Raum: Wie gelingt es uns, den jungen Eltern und der nachfolgenden Generation zu helfen, ihr Leben verantwortungsbewusst und vorausschauend zu gestalten? Wie werden wir Vorbild, um bei ihnen moralisches Empfinden zu entwickeln, das die Achtung der Würde des Menschen möglich macht?

Quelle: Ausgabe vom 08. 03. 2006
www.zeit-fragen.ch

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