Friedrich Liebling: Eine Grösse der Tiefenpsychologie in Zürich

Schlaglicht auf den toten Winkel

Zürich war einmal ein wichtiges Zentrum der Tiefenpsychologie.- Von Jan Strobel - Tagblatt der Stadt Zürich - 04. Mai 2022

Diese Vergangenheit ist heute aus demBewusstsein verschwunden. Die Ausstellung «Zürich entschweigen» möchte das ändern. Von Jan Strobel

Friedrich Liebling mit Ehefrau Bild2
Grösse der Tiefenpsychologie in Zürich: Friedrich Liebling (1893 bis 1982) mit Ehefrau Maria Liebling-Ulbl. Lieblings «Zürcher Schule» wurde nach seinem Tod immer wieder fälschlicherweise mit dem Verein zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis (VPM) in denselben Topf geworfen. Bild: PD

Die Seele mit all ihren gegensätzlichen und widerstreitenden Kräften ist, liesse sich frei nach dem Tiefenpsychologen C. G. Jung sagen, wie eine mysteriöse, oft auch beängstigende Frau. Man sollte sie nicht davonscheuchen, sondern ihr einen Sitzplatz anbieten, sie wie einen Gast behandeln und zuhören, was sie zu sagen hat. Geht es um die Tiefenpsychologie, ihre Geschichte und die Persönlichkeiten, die sie formten, dann nimmt Zürich in Europa eine prominente Stellung ein. Die Stadt bot sozusagen einen idealen Seelengrund, für viele war sie ein rettendes Exil. Eugen Bleuler, Oskar Pfister, C. G. Jung, Sabina Spielrein oder Otto Gross wirkten hier ebenso wie Leopold Szondi, Friedrich Liebling, Paul Parin oder Ruth Cohn. «Zürich war einmal ein hochexperimentelles Tummelfeld der tiefenpsychologischen Praxis», sagt der Zürcher Historiker Peter Boller.

«Diese grosse Vergangenheit der Psychologie allerdings ist grösstenteils aus dem hiesigen Bewusstsein verschwunden.»

Anders gesagt: Die Tiefenpsychologie wird nicht mehr als Gast an den Tisch der Diskurse geladen. Ganz anders sieht es zum Beispiel in Wien, der Wiege der Tiefenpsychologie, aus. Dort wird das Erbe eines Sigmund Freud, Alfred Adler oder Viktor Frankl ganz selbstverständlich hochgehalten und gepflegt. Museen widmen sich ihrem Leben und Werk, Strassen sind nach ihnen benannt. In Zürich herrscht hingegen fast schon ein verdrängendes Schweigen.

Für Peter Boller ist es deshalb höchste Zeit, wieder ein Schlaglicht auf einen toten Winkel zu werfen.

Mit der Ausstellung «Zürich entschweigen», welche diesen Samstag, 7. Mai, im Strauhof eröffnet, begibt er sich auf eine Spurensuche nach den vielfältigen tiefenpsychologischen Strömungen, die sich im 20. Jahrhundert an der Limmat begegneten und befruchteten. Ansichten über die Natur des Menschen, Moral, Geschlechterrollen, die richtige Erziehung, das Zusammenleben, die Gesellschaft bewegten die Gemüter und waren Teil individueller Lernprozesse und Experimente.

Die Ausstellung im Strauhof widmet sich unter anderem folgenden Fragen: Weshalb ausgerechnet Zürich? Welche Zeugnisse und Spuren erinnern heute an die mitunter produktiven und spannungsreichen Entwicklungen?

Philosophische Aspekte

Die Gründe, weshalb sich das Bewusstsein für die tiefenpsychologische Tradition in Zürich heutzutage als derart verschüttet präsentiert, verortet Historiker und Ausstellungsmacher Peter Boller an verschiedenen Polen. «Nach dem Zweiten Weltkrieg und mit dem Beginn des Kalten Kriegs herrschte in der Gesellschaft eine gewisse Vorsicht, eine Ängstlichkeit, aus dem sicheren System auszubrechen», sagt er. Licht in Seelenabgründe oder Schatten zu bringen, die psychologische und philosophische Frage nach dem Sinn aufzuwerfen, das war ein äusserst unsicheres Terrain. Als viel zuverlässiger wurde die wissenschaftliche Psychologie auf der scheinbar unanfechtbaren Grundlage der Statistik angesehen.

In der psychologischen Forschung und Lehre kam es zu einer Polarisierung. Heute werden die Erkenntnisse der Tiefenpsychologie in den Hörsälen häufig als wissenschaftlich zu wenig belegt oder gar als gänzlich «unwissenschaftlich» quasi mit dem Mahnfinger abgehakt. Peter Boller nennt das die «Tragik der Universitäten». In der Therapie gilt heute die Maxime der Effizienz.

«Ich möchte mit dieser Ausstellung einen Beitrag dazu leisten, das verborgene Potenzial der Tiefenpsychologie wieder aufzuzeigen.»

«Zürich entschweigen» präsentiert historische Dokumente und Fotografien, welche dieses Stück Zürcher Geschichte nochmals aufrollen. Dazu vertiefen das Thema zusätzlich Hörstationen mit Interviews, die Peter Boller mit Zeitzeugen und Experten geführt hat. Begleitend zur Ausstellung, wird es am Dienstag, 10. Mai, und am Samstag, 14. Mai (jeweils um 14 Uhr), auch einen Stadtrundgang zu den Wirkstätten der Tiefenpsychologie in Zürich geben.

Quelle: Mittwoch, 4. Mai 2022 I www.tagblattzuerich.ch