Zur Bedeutung Alfred Adlers
von Friedrich Liebling
Die Lehre Alfred Adlers ist zu einem Grundpfeiler der Tiefenpsychologie geworden und ist heute aus der psychologischen Forschung nicht mehr wegzudenken; nichtsdestoweniger hat die Individualpsychologie nur teilweise die Anerkennung gefunden, die sie tatsächlich verdient und die sie auch für ihre bahnbrechenden Errungenschaften beanspruchen darf.
Es gibt vermutlich mehrere Gründe für diesen Missstand, worunter man etwa den relativ frühzeitigen Tod Adlers erwähnen müsste, der für die damals einsetzende weltweite Verbreitung der individualpsychologischen Schule ein empfindlicher Schlag war.
So sehr man auch bedauern mag, dass die Individualpsychologie zum Teil noch nicht ihrem Range entsprechend gewürdigt wird, darf man sich doch damit trösten, dass Adlers entscheidende Einsichten den Weg in die Fachkreise und in die breitere Öffentlichkeit gefunden haben, wenn dies mitunter auch in verschwiegener Weise geschehen ist. Wenn wir heute auf den Werdegang der Tiefenpsychologie zurückblicken, müssen wir uns eingestehen, dass die Entwicklung Adler in vielen Punkten Recht gegeben hat.
Schon im Jahre 1912 löste sich Adler von der Psychoanalyse, indem er die Auffassung über die kindliche Sexualität, den Ödipuskomplex, den Kausalmechanismus im Seelenleben usw. nicht zu teilen vermochte. Für ihn war der Mensch ein freies Wesen, nicht allein durch die Triebe definiert, sondern hauptsächlich bestimmt durch die kulturellen Aufgaben, denen er sich zeit seines Lebens unausweichlich gegenübersieht. Die Wendung von einer Triebpsychologie zur Erforschung der menschlichen Persönlichkeit deutete Adler durch den Begriff der «Individual»-Psychologie an, worin die Forderung enthalten ist, jeden Einzelnen als ein Unwiederholbar-Einmaliges zu verstehen und zu schätzen.
Der Mensch unterliegt nicht einem direkten Zwang durch den Trieb oder das Milieu; für Adler entsteht der Charakter nicht durch eine Vererbung, sondern ist ein schöpferisches Produkt des Kindes, entstanden aus der Auseinandersetzung mit den frühkindlichen Lebensumständen, insbesondere den Erziehungseinflüssen, die für die Charakterbildung am massgeblichsten sind. In der Kindheit muss das Gemeinschaftsgefühl entwickelt werden, das für jegliche Einordnung und Kulturleistung im späteren Leben entscheidend ist.
Quelle: Der Psychologe. Monatsschrift für Psychologie und Lebensberatung. Hrsg. Dr. G. H. Graber. Bern 1957