Welche Faktoren beeinflussen psychische Stabilität?
asc. Frau Neumann meldet ihren 6jährigen Sohn beim Kinderpsychologen an. Sie macht sich Sorgen um seine Stimmung, er weine oft ohne ersichtlichen Grund, ziehe sich zurück. Liegt hier eine depressive Verstimmung vor? In der Diagnostik malt der Junge ein Bild seiner Familie. Der Mutter fliessen dicke Tränen über das Gesicht. Im Gespräch äussert er: «Die Mama ist traurig.» Warum, das weiss er nicht. Die weitere diagnostische Abklärung (Anamnese, Leistungstest, projektiver Test) ergibt keine besondere Auffälligkeit. Die Psychologin fragt die Mutter im Elterngespräch, ob das Thema Trauer ein Thema in ihrem Leben sei. Die Mutter nickt. Ihr grosser Schmerz sei, berichtet sie unter Tränen, dass ihre Mutter verstarb, als sie gerade 4 Jahre alt war. Geschwister hatte sie keine. Sie sei in der Verwandtschaft herumgereicht worden, im Kindergarten sei man unachtsam mit ihrer Not umgegangen, die neue Frau des Vaters sei im wahren Sinn des Wortes eine böse Stiefmutter gewesen. Im weiteren Verlauf des Gespräches entschliesst die Mutter sich, ihre eigene Problematik aufzuarbeiten.
Ihr Sohn hatte im gewissen Sinn die in ihr eingekapselte Trauer gespürt und auf seine Art verarbeitet. Die Mutter erarbeitete sich in ihrer eigenen Therapie unter anderem, dass sie äusserlich eine lebensfrohe, aktive Frau geworden ist. Durch die Ehesituation wurde ihre frühe Verlassenheit aktiviert, da ihr Mann beruflich in den letzten Jahren sehr absorbiert war und sie innerlich in der Erziehung ihrer beiden Kinder alleine war. Ein katamnestisches Gespräch drei Jahre später erbrachte, dass die Mutter innerlich freier und ausgeglichener leben und sich mit ihrer Lebensgeschichte aussöhnen konnte. Ihr Sohn ist ein aktives und fröhliches Kind.
Alltagspsychologisch leuchtet es ein, dass der Tod eines Elternteils Wunden in das Lebensgefühl eines Kindes schlägt. Die Risiko- und Schutzfaktorenforschung, die in den letzten Jahren die Ergebnisse aus zahlreichen Langzeitstudien der Öffentlichkeit zugänglich machte, legt heute umfangreiche Daten vor, welche Lebensereignisse als Risiko für die seelische Entwicklung gewertet werden müssen.
Es ist einen eigenen Artikel wert, die Risiko- und Schutzfaktoren für das jeweilige Lebensalter (Vorschulalter, Grundschulalter, Pubertät, junges Erwachsenenalter) darzustellen. Einige sollen hier für das Grundschulalter genannt werden.
Entwicklungsrisiken …
Als gewichtige Risikofaktoren gelten unter anderem:Kriminalität oder Dissozialität der Eltern, Psychopathologie der Mutter oder des Vaters, überkontrollierende oder distanzierte bis gleichgültige Mutter, Drogen- oder Alkoholsucht eines Elternteils, sexueller oder aggressiver Missbrauch, chronische Disharmonie (Streit) oder Beziehungspathologie der Eltern, Mutterverlust in der Kindheit, häufig wechselnde frühe Beziehungen, traumatische Erlebnisse in einem unsicheren Lebensumfeld, besonders Kriegsfolgen.
Den Risikofaktoren stehen die Schutzfaktoren gegenüber. Schutzfaktoren, auf die ein Mensch zurückgreifen kann, helfen, gravierende Lebensbelastungen abzumildern.
… und Schutz
Schutzfaktoren der mittleren Kindheit (6 bis 11) sind: soziale Kommunikationsfähigkeit, positive Einstellung zur Schule, meist gekoppelt mit einer guten Beziehung zu mindestens einem Lehrer, gut entwickelte Selbständigkeit, aktive Problemlösekompetenz, hohes Selbstwirksamkeitsempfinden, Kompetenzüberzeugung, Übernahme sozialer Aufgaben, Bereitschaft, soziale Verantwortung zu übernehmen, gute Freundschaftsbeziehungen, «Ersatzeltern», ein oder mehrere Hobbys, die mit Nachdruck betrieben werden und aus denen Anerkennung geschöpft werden kann.
Der Tod eines Elternteils zählt zu den gewichtigen Risikofaktoren in der Entwicklung von Kindern. Die vorhandenen Schutzfaktoren müssen aufgespürt und gegebenenfalls zur Blüte gebracht werden.
Meistern der Entwicklungsaufgaben
Schliesslich gilt es, den Blick darauf zu richten, ob das Kind die Entwicklungsaufgaben meistert, die seinem Lebensalter zugeordnet sind. Stellt sich das Kind den Aufgaben, findet persönliche Entwicklung statt – versagt es in einem oder mehreren Bereichen, ist es unzufrieden oder unglücklich. Die Folge ist eine Mutlosigkeit, die es in den nachfolgenden Entwicklungsabschnitt mitnimmt. Es neigt dann zu Zweifeln an seiner Bewältigungskompetenz für andere Aufgaben.
Im Grundschulalter lauten die Entwicklungsaufgaben: Die Ausdifferenzierung schulischer Fertigkeiten, der Aufbau von Beziehungen zu Gleichaltrigen, das Erlernen der Impulskontrolle und das Erlernen von sozialen Kompetenzen, die Kooperation in der Familie, das Finden und Einnehmen eines Platzes in der Familie.
Verliert ein Kind seinen Vater oder seine Mutter durch Krankheit, Unfall oder Suizid, steht das soziale Netz des Kindes vor spezifischen Anforderungen. Wie gross die Gefahr der seelischen Dekompensation ist, lässt sich durch die Abwägung der vorhandenen Risikofaktoren im Gegengewicht zu den Schutzfaktoren orten.
Im oben dargestellten Beispiel standen den Risikofaktoren zuwenig gewichtige Schutzfaktoren gegenüber.
Anders im folgenden Beispiel:
Tragischerweise wurde die Mutter des 6jährigen Sven und der 9jährigen Leila beim Fahrradfahren von einem abbiegenden Lkw übersehen und starb noch an der Unfallstelle. Schock und Trauer bei Angehörigen und der Gemeinde waren zunächst bodenlos und mündeten in überwältigende Anteilnahme und Beistand. Der Vater wechselte auf eine Halbtagstätigkeit, um nachmittags für seine Kinder da zu sein. Die im Nachbarhaus lebenden Grosseltern, die Kindergärtnerin und die Grundschullehrerin, die Mitschüler und deren Eltern – alle standen hier zur Seite. Die Kinder bewältigten ihre Entwicklungsaufgaben, die Familienmitglieder blieben für sie emotional präsent und schwingungsfähig. Sämtliche Schutzfaktoren waren bei beiden Kindern vorhanden. Ihre Lebensaufgaben meisterten sie gut. Hier bewältigten die Kinder die Trauer angemessen und entwickelten keine psychische Auffälligkeit.
Ist der hinterbliebene Elternteil, die Lehrerin und Erzieherin bereit, für das Kind da zu sein, antwortet das Kind angemessen auf seine Lebensanforderungen, und verfügt es darüber hinaus über eine Reihe an schützenden Faktoren, bestehen sehr gute Aussichten, dass das Kind die Trauer so verarbeitet, dass es zu einem stabilen, lebensfähigen Erwachsenen heranwächst.
Vertrauensvolle Beziehungen
Als mächtigster und hochrangigster Schutzfaktor über alle empirischen Studien hinweg ist die vertrauensvolle Beziehung zu einem Elternteil oder einer anderen nahen und vertrauten Beziehungsperson (Grosselternteil oder langfristige sonstige Bindungsperson). Diese Person muss für das Kind ein Identifikationsmodell bilden können. Sie muss auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen und dem Kind eine sichere Basis bieten können.
Wenn diese positive Bezugsperson im Gefühlseindruck des Kindes stärker ist als die gesamte belastende Lebensrealität, rückt eine zufriedenstellende seelische Entwicklung in den Bereich des Möglichen, selbst wenn die Lebensrealität eines Kindes belastet ist.
Hieraus folgt die Aussage, dass ein Risikofaktor, der im Leben eines Kindes ausgemacht werden kann, nicht zu einer Gefährdung seiner seelischen Stabilität führt, wenn Schutzfaktoren in ausreichendem Masse abgerufen werden können.
Der letztgenannte Schutzfaktor bildet die Brücke zum zweiten psychologischen Forschungsbereich: der Bindungstheorie.
Bindungstheorie
Die Ergebnisse der Bindungstheorie öffnen den Blick für eine stärkende, emotional wache, fördernde Eltern-Kind-Beziehung.
Bindungsforscher legten dar, dass ein feinfühliger Elternteil, der die Bedürfnisse und Lebensäusserungen eines Kindes richtig entschlüsselt und angemessen beantwortet, den Grundstein für eine sichere Bindung des Kindes legt. Sicherheit im Lebensgefühl des Kindes führt zu mehr innerer Freiheit und Eigenständigkeit im späteren Leben.
Die erziehungswissenschaftliche Pädagogik, die die Erkenntnisse der Bindungstheorie auf den Erziehungsalltag übersetzt, weist auf die Erziehungsbedürftigkeit des Kindes hin (Neufeld 2006). Hieraus leitet sich ab, dass Eltern dem Kind neben Sicherheit und Halt auch Orientierung geben müssen.
Im Koordinatenfeld
Die Koordinaten der drei Felder zwischen der Risiko- und Schutzfaktorenforschung (Resilienzforschung), Bindungsforschung und Pädagogik geben allen, die Kinder ins Leben begleiten, viel Sicherheit an die Hand. Dies ermöglicht eine Ortung der psychischen Stabilität des Kindes und lässt die Entwicklung seiner Stabilität vorhersagen. Die Resilienzforschung, damit sind die Bedingungen für ein Reifen der inneren Widerstandskraft gemeint, hat in den letzten Jahren eindruckvolle Daten vorgelegt (E. Werner).
Ein Vertiefen dieser Ansätze, ein Verfügbarmachen für den Erziehungsalltag und die Ausgestaltung weiterer Langzeitstudien dienen den kommenden Generationen.
Ein kostenintensiver Ansatz, der genetische Faktoren zu entschlüsseln sucht (unter anderem mit unabsehbaren Folgen für den Versicherungsschutz dieser Menschen), erscheint zum Verständnis, zur Prävention und Therapie neurotischer Entwicklungen und Persönlichkeitsstörungen wenig zielführend.
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