Tiefenpsychologische Menschenkenntnis
Grundlagen zur Arbeitsweise der Zürcher Schule für Psychotherapie
Friedrich Liebling, Zürich
Die traditionellen Theorien der Menschenkenntnis stimmen im wesentlichen darin überein, daß sie den Menschen von außen her, gleichsam schematisch, zu beurteilen versuchen: Ein mehr oder minder genaues Einteilungsprinzip wird an den Menschen herangetragen, mit der Hoffnung, die Fremdpersönlichkeit innerhalb einer Kategorie einfangen zu können. Aus dem Teil wird ziemlich phantasiereich auf das Ganze geschlossen; bevorzugte Reaktionsweisen, Äußerlichkeiten wie Gestalt oder Gesichtsform, Ergebnis eines Tests usw. - aus all dem soll ein Einblick in die Seele des Mitmenschen gewonnen werden, und man gibt sich der Illusion hin, daß ein statistisch unterbautes Schema ermöglichen könnte, mit meßbaren Größen zu arbeiten.
Den Menschen messen? Skepsis ist angebracht.
Allen diesen Versuchen und Methoden, denen gewisse Teilerfolge mitunter beschieden sein können, hat die Tiefenpsychologie von ihren Anfängen an eine große Skepsis entgegengebracht. Die Erfahrungen der therapeutischen Praxis haben gelehrt, daß jeder Patient eine Individualität ist, und daß seelische Verhaltensweisen ihr Profil erst im Rahmen der Gesamtpersönlichkeit gewinnen.
Eine neue Methode mußte sich hier aufdrängen. Zählen, Messen, Rechnen, Schematisieren, aus den Naturwissenschaften und ihrem Gegenstandsbereich wohlvertraut, versagen im psychischen Bereich. Hier muß die Intuition walten, die Fähigkeit der Einfühlung, des Mitempfindens und des Sich-in-die-Situation-des-anderen-Versetzen.
Intuition als “Werkzeug” des Psychologen
Die psychotherapeutische Situation war für die Ausbildung einer derartigen Methodik ungemein günstig. Im Alltagsleben hat man selten Gelegenheit, tiefer in das seelische Getriebe eines Mit- oder Nebenmenschen zu blicken. Unsere Menschenkenntnis bleibt oberflächlich, aber wir werden dessen selten gewahr, indem sich unsere Fehler in der Behandlung und Beurteilung anderer nicht unmittelbar manifestieren, so daß man kaum je die Möglichkeit zur fundamentalen Selbstkritik besitzt.
Anders in der Psychotherapie. Der nervöse Patient wird dazu angehalten, möglichst viel und möglichst offenherzig von seinem Innenleben zu berichten. Er darf über seine Gefühle, seine Stimmungen, seine Gedanken Aufschluß geben, und es breitet sich vor dem Psychologen ein Bild des Seelenlebens aus, das stellenweise den Charakter der Vollständigkeit annimmt. Diese Angaben des Patienten abzuwägen, zu verstehen und zu deuten ist eine intuitive Aufgabe; sie ist wissenschaftlich nicht faßbar, sondern der Kunst zu vergleichen, ein künstlerischer Akt, durch den die Wesensart eines Mitmenschen geoffenbart werden soll.
Sich-Einfühlen ist eine Grundfunktion der menschlichen Natur
Natürlich ist der Psychologe auch nur ein Mensch wie alle anderen Menschen, und er benützt zum Verstehen nichts anderes als eine Grundfunktion der menschlichen Natur: Verstehen ist eine Möglichkeit des Menschen überhaupt, und jede Freundschaft, jede Liebe, jede Partnerschaft, jedes Gespräch ist auf dem Verstehen aufgebaut.
Wir benötigen überall Intuition, im Leben wie in der Wissenschaft, und der Psychologe in seinem Beruf verfeinert lediglich ein Werkzeug, das dem Menschen angeboren ist und dessen Leistungsfähigkeit - wie die aller anderen Lebenswerkzeuge des Menschen durch Geduld, Feinsinn und Liebe zur Sache gewaltig gesteigert werden kann.
In jedem Sich-Einfühlen spielt nicht nur ein intuitiver Akt eine Rolle, sondern jedes Fremdverstehen wird mitbedingt durch die Reife, die Lebenserfahrung, die Selbsterkenntnis und nicht zuletzt durch die Weltanschauung eines Menschen.
Auch hier wird der Satz gelten, daß jede psychotherapeutische Behandlung so viel wert ist wie der behandelnde Psychotherapeut: Mit anderen Worten, man kann den Patienten nur so weit verstehen, als man selber von Komplexen frei ist. Jeder Komplex hat die Eigenschaft, die Optik zu verzerren, das Bild zu verfälschen; je komplexhafter eine Persönlichkeit, um so mehr Komplexe oder Komplikationen wird sie in die Umwelt hineinprojizieren.
Berufsethische Anforderungen an den Psychologen
Man kann begreiflicherweise vom Psychologen nicht verlangen, daß er einem Ideal psychischer Gesundheit, respektive Freiheit von Komplexen entspricht; wir sind bescheiden genug, lediglich zu fordern, daß er die Einseitigkeiten seiner Persönlichkeit kennt, um auf sie zu achten, wenn er ein Urteil über einen anderen Menschen abgibt.
Der Psychologe muß aber auch ein Mensch sein, der imstande ist, sein eigenes Leben zu gestalten, das heißt im Bereich der Normalität zu bewahren: Jeder entgleiste Menschentypus, gescheitert in der Berufssphäre, im Liebesproblem, an der Sexualbeziehung usw., wird als «Menschenkenner» zu fragwürdigen Resultaten gelangen, weil der «gescheiterte Mensch» (im weitesten Sinne des Wortes) in der Regel ein Ressentiment-Charakter ist und selten vorurteilsfrei an andere Menschen herantreten kann.
Die Tiefenpsychologie postuliert eine intuitive Menschenkenntnis, aber sie hat zugleich auch alle Hilfsmittel bereitgestellt, um der Intuition ein wissenschaftliches Rüstzeug zur Unterstützung zu geben. Das Befragen oder das Beobachten eines Menschen (welches ein stilles Befragen ist) muß einem Leitfaden folgen können, gleichsam einem Frageschema, in welchem Vermutungen Platz greifen können. In jedem Fragen steckt ein halbes Wissen, und zielgerechte Befragung ist nur möglich, wenn man bereits zum vornherein weiß, was man bei einem Menschen zu erwarten hat.
Die genaue Kenntnis der menschlichen Natur ist conditio sine qua non
Nur die tiefgründige Kenntnis der menschlichen Natur im Gesamten gestattet, die Einzelpersönlichkeit in ein helles Licht zu rücken; tiefenpsychologische Menschenkenntnis ist zunächst ein Schema der menschlichen Natur, und indem sich die Individualität aus diesem Schema heraushebt, wird sie uns verständlich.
Welche Fragen trägt die Tiefenpsychologie an den Menschen heran? Was will sie bei ihrem Versuch des Verstehens ermitteln? Woher nimmt sie ihre Maßstäbe, ihre Kriterien, ihre Wertungen?
Die Analyse des Charakters, des gesunden wie des nervösen, soll hauptsächlich ergeben, wie der betreffende Mensch zu sich selbst und seiner Mitwelt steht. Wir orientieren uns hierbei an seiner Selbsteinschätzung und seiner Kontaktfähigkeit.
In der ersteren zeigt sich das Ausmaß seiner seelischen Stabilität, eine Art Barometerstand der psychischen Gesundheit: Unnütz zu sagen, daß ein Zuviel ebenso verdächtig ist wie ein Zuwenig, Größenwahn ebenso krankhaft wie Minderwertigkeitskomplexe, respektiv eines nur die Kehrseite des anderen.
Die Kontaktfähigkeit, definiert als die Fähigkeit, sich mit anderen Menschen zu verbinden und die Verbundenheit zu erhalten, ist ebenfalls ein genauer Indikator des inneren Gleichgewichtes, denn wir wissen aus Erfahrung, daß alle Formen psychischer Störung sich fundamental als Kontaktausfall dokumentieren.
Die Stellung des Menschen zur Welt feinfühlig abtasten
Man muß also die Lebensfront des Menschen abtasten, seine Stellung in der mitmenschlichen Welt miterleben, fragend aufhellen: Stellungnahme zu Eltern, Geschwistern, Untergebenen und Vorgesetzten, Gleichgestellten, Freunden, Liebespartnern, Kindern, ja sogar Stellungnahme zu entfernteren Verwandten, Volk- und Standesangehörigen, zur Menschheit überhaupt. Dies alles ergibt ein Gesinnungsprofil eines Menschen, das in gleicher Weise sein Selbstwertgefühl wie sein Kontakterleben widerspiegelt.
Natürlich muß man hierbei wissen, wie menschliche Gesinnungsäußerungen bewertet werden sollen, man muß gleichsam selber die «höhere Moralität» in sich tragen, welche einen Gesinnungsmangel erkennen kann; im gewissen Sinne stellt jeder Versuch der Menschenkenntnis den Menschenkenner auf eine sittliche Probe, und er wird nur verstehen, was er selber an Werten der Einstellung oder der Gesinnung zu realisieren imstande ist.
Die hohe Kunst der psychologischen Diagnostik
Gesinnungen zu erahnen ist eine große Aufgabe, schwierig genug, um die psychologische Diagnostik zu einem hochbedeutsamen Problem zu machen. Der geübte Diagnostiker kann es so weit bringen, daß er aus kleinen Symptomhandlungen, aus dem ersten Eindruck, aus dem Gespräch mit dem Ratsuchenden ungemein rasch und gleichsam unbewußt die Persönlichkeit des anderen erfaßt. Die Art, wie einer ein Zimmer betritt, wie er sich vorstellt, wie er spricht oder schweigt, wie er dasitzt, wie er geht oder steht: All dies kann dem geschulten Menschenkenner zu einer Symptomsprache werden, wie ja auch die Handschrift symbolisch das Persönlichkeitsgefüge eines Menschen zum Ausdruck bringt.
Was die Intuition nicht hergibt, muß die sichere Technik der Befragung aufklären; wo man die Gesinnung nicht erahnt, wird man sie durch das Studium des Verhaltens erschließen, Jegliche Gesinnung gibt sich kund in Verhaltensweisen, sie ist der eigentliche Grund des Verhaltens. Die Lebensumstände wechseln ständig, aber vor jeder neuen Lebenssituation wird die Gesinnung eines Menschen (worin wir seine Selbsteinschätzung, seine Kontaktfähigkeit, seine Urteile und Vorurteile, sein Werterleben usw. zusammenfassen) eine bestimmte Handlung resultieren lassen.
Menschliches Handeln läßt sich nicht mathematisch vorausberechnen, aber wenn man die eigentliche Gesinnung eines Menschen kennt, wird man jegliches Tun und Lassen wenn nicht voraussagen, so doch mindestens post factum verstehen können: «Wenn ich so zum Leben stehen würde wie er, dann hätte ich kaum anders handeln können» usw.
Hier muß man sich allerdings an die tiefenpsychologische Erkenntnis erinnern, daß die Gesinnungen eines Menschen durchaus kein unzusammenhängendes Konglomerat bilden («Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust»), sondern ein relativ einheitliches Persönlichkeitsgefüge ausmachen, einen einheitlichen «Weltentwurf» (wie die Existenzialisten sagen) oder in der Sprache der Adlerschen Individualpsychologie: Eine typische «Gangart» gegenüber den Lebensproblemen, eine persönliche Leitlinie, ein Persönlichkeitsideal, das bewußt und unbewußt verwirklicht zu werden strebt.
“Dem Menschen auf die Hände schauen, nicht auf den Mund”
Die Erfahrung lehrt dann manches hinzu hinsichtlich des Selbst-Belügens und der Selbst-Täuschung, wobei Menschen Gesinnungen äußern, die ihrem Handeln völlig fremd sind, sozusagen vornehm in Worten, in der Tat durchaus vulgär. Die kulturellen Wertschätzungen lassen die meisten nach der Würde der Moralität streben, und da man sich in ein gutes Licht rücken will, wird man sich jene Eigenschaften zuschreiben, die sozial geachtet sind.
Demgegenüber muß für den psychologischen Anfänger immer wieder betont werden, daß der letzte Prüfstein einer Gesinnung das reale Verhalten ist: «Schaut ihm nicht auf den Mund, sondern schaut auf die Hände», pflegte Alfred Adler seinen Schülern über den nervösen Patienten zu sagen.
Welches Verhalten des Patienten soll der Psychologe oder Menschenkenner vorzüglich beurteilen?
Im Grunde ist jede Lebensäußerung ein psychisches Verhalten und darum auch alles psychologisch deutbar, wie bereits festgestellt: Mimik, Gestik, Stimme, Wortwahl oder Sprachschatz, Kleidung usw. In dieser Vielfalt von psychologischem Material, das wir durchaus nicht unterschätzen, erscheint uns das Verhalten innerhalb des Lebenslaufes als besonders charakteristisch - wie einer sein Leben gelebt oder aufgebaut hat, wie er den Schwierigkeiten begegnete, die das Leben ihm stellte, wie er persönliche oder allmenschliche Situationen gemeistert hat oder an ihnen scheiterte: Das wird für die Tiefenpsychologie immer den besten Test abgeben zur Beurteilung einer Persönlichkeitsstruktur, ein Test übrigens, dem jedes künstliche Verfahren abgeht, weil er dem Leben selber entnommen ist, ein Test schließlich, an den weder Rorschach-Verfahren, Graphologie noch irgendein anderes Stückwerk heranreichen kann.
Der therapeutische Aspekt der tiefenpsychologischen Befragung
Die psychologische Interpretation des Lebenslaufes ist das Grundprinzip unserer Menschenkenntnis, das wir allen sogenannten «abgekürzten Verfahren» vorziehen; erstens nützt es uns wenig, wenn der Test rascher arbeitet, aber immer zwei- oder mehrdeutig bleibt, denn jede Testauswertung wird von imponderablen Faktoren wie Zeit, Umstände, momentane Verfassung usw. beeinflußt; zweitens ist es fraglich, ob der Test oder die «Test-Batterie» (zu welcher überaus spitzfindige Test-Männer neuerdings zu greifen wünschen) wirklich schneller arbeitet als die zielgerechte tiefenpsychologische Befragung, welche nicht nur klarere Befunde liefert, sondern zumeist auch im Dienste therapeutischer Beeinflussung steht, und somit nicht nur ein Übel diagnostiziert, sondern auch seine Heilung einleitet.
Das tiefenpsychologische Frageschema
Im Rahmen eines Frageschemas einer tiefenpsychologischen Menschenkenntnis werden etwa folgende Fragen als bedeutsam hervortreten: Welche frühkindliche Erfahrungen wurden gemacht? Charakter der Mutter und des Vaters: welche Beziehung bestand zu ihnen? Verwöhnende oder strenge Erziehung? Eventuelle Eigentümlichkeiten als Kind: Langandauernde Unreinlichkeit, Nahrungsverweigerung, Daumenlutschen, Bettnässen, Schreckreaktionen usw.? Verhalten gegenüber Geschwistern: Einzelkind, Jüngstes, Ältestes, Mittleres, Bub unter Mädchen oder Mädchen unter Buben, geliebte, gehaßte, beneidete, überlegene oder unterlegene Geschwister? Von den Eltern bevorzugt oder hintangestellt?
Kindergarten und Schule: anschlußbereit oder isoliert, ruhig oder lebhaft? Welche Leistungen: eifrig, pflichterfüllend, ehrgeizig oder träge, nachlässig? Erlebnisse mit den Lehrern: Strenge oder gute Lehrer, Situationen der Bestrafung. Verhalten angesichts der Berufswahl: klarer Berufswunsch oder unentschiedene Wunschgedanken? Welcher Beruf wurde gewählt? Arbeitsleistungen im Berufsmilieu? Zufrieden oder unzufrieden mit dem Beruf? Aufstiegstendenzen? Erwachen der Sexualität: Wann? Aufgeklärt? Oder abgeschreckt? Wann und in welchem Grade Onanie? Wann erste Liebesbeziehung, erster Sexualkontakt? Welches Triebverhalten dominiert, welche Einstellung gegenüber dem anderen Geschlecht, dem Sexualverkehr? Häufigkeit, Potenz, eventuelle Abweichungen von der Norm?
Körperliche Gesundheit und allgemeines Lebensgefühl: Befund des Arztes? Krankheiten in der Kindheit und ihre psychische Verarbeitung? Angst vor der Krankheit, vor dem Tod? Stimmungen, Gefühle: Optimismus oder Pessimismus? Geistiges Niveau: Intellektuelle Fähigkeiten, Bildungsgrad usw., Stellungnahme zu religiösen, politischen oder philosophischen Fragen? Dominierende Charakterzüge: Ehrgeiz, Eitelkeit, Neid, Geiz, Haß, Ängstlichkeit, Melancholie, Mitleid, Gemeinschaftsgefühl usw. Minderwertigkeitsgefühle, Selbstüberschätzung usw.
Das obige Schema ist notwendigerweise unvollständig; im Grunde handelt es sich um ein frei zu handhabendes Instrumentarium von Fragen, das den Gegebenheiten des Einzelfalles intuitiv angepaßt werden muß.
Der Psychologe oder Menschenkenner muß herausfühlen, wo ein ergiebiges Problem vorliegt, und wo es sich sozusagen psychologisch lohnt, tiefer zu graben und eingehendere Befragung vorzunehmen.
Eine derartige Diagnostik hat den unschätzbaren Vorteil, daß sie sich der Form des ungezwungenen Gesprächs bedienen kann; insofern ein Vertrauensverhältnis zwischen Fragendem und Befragtem zustande kommt, wird der letztere gerne und mitunter rückhaltlos von seiner Erlebniswelt berichten: Man macht häufig die Erfahrung, daß der Mensch bereitwillig seinen Lebenslauf darstellt, offenbar weil es ein Gefühl der Erleichterung mit sich bringt, das Erleben und Erleiden einem interessiert und verständnisvoll zuhörenden Du mitzuteilen.
In gewissem Sinn enthält eine solche Lebens-Beichte, durch psychologische Fragestellung evoziert, einen therapeutischen Faktor: Erzählend gewinnt der Erzähler Abstand zu Problemen, die ihn - solange er sie nur für sich behalten hat - schwerwiegend belasten.
Natürlich muß die psychologische Befragung immer den Gesetzen des Taktes folgen und in ihrem Fortgang sich sukzessive und schonend den intimeren Bereichen zuwenden: Eine Frage, die zu Beginn eines Gesprächs noch eventuell mit Befangenheit empfunden wird, mag etwas später einen durchaus ungezwungenen Charakter annehmen; dabei soll darauf geachtet werden, daß jedes Problem, sei es auch das intimste, mit einer Art anteilnehmender und doch nüchterner Interessiertheit erörtert wird.
Freuds Traumdeutung war kein Königsweg zum Unbewussten des Menschen
Man könnte hier den Einwand erheben, daß alles Miteinandersprechen innerhalb und mit Hilfe des Bewußtseins stattfindet und demgemäß lediglich über bewußte Antriebe Auskunft geben kann. Aus diesem Grunde hat die tiefenpsychologische Forschung in ihren Anfängen die Forderung erhoben, auf das Unbewußte des Patienten vorzüglich zu achten; echte Menschenkenntnis bedeutete damals Interpretation unbewußter Seelenäußerungen wie etwa Fehlleistung, Symptom oder Traum. Der Traum wurde von Freud als die Königsstraße zum Unbewußten bezeichnet, und daher leitet sich bis auf den heutigen Tag die Ansicht mancher Psychologen ab, daß die Traumdeutung ein unabdingbares Werkzeug psychologischer Menschenkenntnis zu sein habe.
Im Bestreben, dem Unbewußten des zu Beurteilenden auf die Spur zu kommen, analysieren orthodoxe Psychoanalytiker Hunderte von Träumen, ein Verfahren, das ebenso zeitraubend wie kostspielig ist.
Demgegenüber darf darauf hingewiesen werden, daß das Unbewußte eines Menschen deutlich genug in seinem mitmenschlichen Verhalten, seiner Lebensführung einst und jetzt zum Ausdruck kommt.
Der Umweg über zahllose Träume erübrigt sich für den Kundigen, der innerhalb des Gesprächs auf seelische Äußerungen zu hören gelernt hat; und wenn auch die Auslegung des Traumes zu den Ruhmestaten der Tiefenpsychologie gehört, zum eigentlichen Stolz ihres Begründers, wird es nun endlich Zeit, sich darüber klar zu werden, daß der Traum ein Symptom wie alle anderen Symptome ist, keineswegs ausgezeichnet gegenüber anderen Reaktionen und durchaus kein Passepartout, der mit Sicherheit in die Schlupfwinkel des Unbewußten führt.
Mitunter lassen sich Traumdeuter und Träumender auf ein selbstgefälliges Spiel ein, das tausenderlei Interpretationsmöglichkeiten bietet, je nach der Theorie des Interpreten, welcher sich der Träumer mehr oder minder gefällig erweist. «Im Auslegen seid frisch und munter / Legt ihr's nicht aus, so legt es unter» (Goethe).
Menschenkenntnis als Kunst mit wissenschaftlichem Fundament
Die schönste Bestätigung unserer tiefenpsychologischen Menschenkenntnis finden wir im Werke der großen Schriftsteller, die vor einem ähnlichen Problem standen wie der Psychologe: Es soll in der Literatur eine Reihe von Charakteren entstehen, die als echt und folgerichtig anmuten, in denen bis in ihre kleinsten Handlungen hinein das Gesetz der Persönlichkeit deutlich wird.
Ein kurzer Überblick über Werke von Shakespeare, Goethe, Balzac, Stendhal, Flaubert, Dostojewskij, Tolstoi und in neuerer Zeit Ibsen, Thomas Mann, James Joyce, Jakob Wassermann, Stefan Zweig usw. zeigt uns, daß wir auf dem richtigen Wege sind, wenn wir die Menschenkenntnis zur Kunst rechnen, aber nichtsdestoweniger bemüht sind, ihr ein wissenschaftliches Fundament zu geben.
Ohne die ethische Frage geht es nicht
In diesem Zusammenhang erhebt sich allerdings auch eine ethische Frage. Menschen zu kennen und zu verstehen ist nicht in letzter Instanz eine Problematik der sachbezogenen Praxis, sondern des menschbezogenen Ethos.
Dies unterscheidet jede tiefere Menschenkenntnis von der gewiegten [gewieften] Klugheit oder Menschenbeurteilung eines Kellners, Verkäufers, Portiers usw.; hier wird der Mensch aus einem bestimmten Aspekt heraus betrachtet, und gibt demgemäß auch nichts anderes als diesen Aspekt her, etwa: Was und wieviel kann man diesem Manne verkaufen?
Einen Menschen aber in seiner Wesensart zu erfassen ist lediglich demjenigen möglich, der den Menschen um seiner selbst willen studiert, vielleicht ist sogar ein grundlegendes Verstehen nicht abtrennbar von dem Wunsche oder der Neigung, dem anderen zu helfen, ihm zu verhelfen, sein wahres Wesen zu realisieren.
Menschenkenntnis darf nicht zu einem Gesellschaftsspiel werden, zu einer oberflächlichen Belustigung, in der man dem Nachbarn «Fehler» aufzeigt oder die Maske vom Gesicht zieht; noch weniger darf sie zu einem Behelf der Selbstüberhebung werden, worin man durch die Einsicht in fremde Mängel sich selbst der Mangelhaftigkeit überhoben glaubt.
Es mag vielleicht moralistisch klingen, aber man kann tatsächlich die Menschen nur verstehen, soweit man sie liebt; und man wird sie besser lieben, wenn man sie besser versteht.
Das Grundgefühl eines echten Menschenkenners muß die Achtung vor der Fremd-Persönlichkeit sein, eine Haltung frei von richterlichen und moralistischen Intentionen: Nichts ist schwerer für den Menschen als solch eine vorurteilsfreie Begegungsfähigkeit, und daher rührt der psychologische Zusammenhang, daß jene die guten Menschenkenner sind, die selber schon in großen Verstrickungen von Schuld, Versuchung oder innerer Not gestanden haben; die reuigen Sünder haben - wie Alfred Adler hervorhebt - im Aufbau der europäischen Moral (im Guten wie im Schlechten) eine hervorragende Rolle gespielt.
Fassen wir das Problem sachlicher an, so ist es offenbar so, daß eigene Not, sofern sie überwunden ist, die Augen erst öffnet für die große Mühe, welche die Menschen mit ihrem Leben haben: Eine Einsicht, die uns versöhnlich und milde macht und uns den Wert des Menschen an sich, gleichviel mit welchem Makel einer behaftet ist, vor das Bewußtsein bringt.
Die anthropologische Konstante des Menschseins
Wie bereits angedeutet, entspringt die Menschenkenntnis einem anthropologischen Merkmal des Menschen, nämlich der Tatsache, daß jeder Mensch für andere Menschen in einem gewissen Grade verständlich ist.
Ungeachtet der Unterschiede von Volk, Nation, Rasse, Religion, geschichtlichem Standort usw. sind die Motive des menschlichen Handelns zu allen Zeiten wesentlich dieselben geblieben; ein genaueres Verständnis menschlicher Motivationen enthüllt die Charakterstruktur von Menschen der fernsten und der nächsten Epochen; und es besteht kein Zweifel, daß die Tiefenpsychologie zur Herausarbeitung der allgemeinen Struktur des Menschseins einen Beitrag geleistet hat, für den trotz dem ungeheuren Material von Geschichtsschreibung, Dichtung, Überlieferung und volkstümlicher Weisheit kaum etwas Ebenbürtiges gefunden werden kann.
Zusammenfassung
Die tiefenpsychologische Menschenkenntnis, hervorgewachsen aus der psychotherapeutischen Praxis, stellt sich grundsätzlich auf den Standpunkt, daß seelisches Fremdverstehen im wesentlichen auf Intuition beruhen muß.
Alle mechanischen oder statistischen Hilfsmittel wie etwa Tests bringen die Gefahr mit sich, daß die Beurteilung des Menschen an Oberflächlichkeiten haften bleibt; das Verlockende jeder schematisierenden Menschenkenntnis besteht darin, daß der Beurteilende hierbei die eigene Persönlichkeit nicht in die Waagschale werfen muß, sondern mitunter mehr oder minder unbeteiligt «an der Tabelle» die Wesensart des Mitmenschen ablesen zu können glaubt.
Menschenkenntnis im Sinne der Tiefenpsychologie wird als eine Form des Verstehens gedeutet, welches zur menschlichen Natur gehört und die eigentliche Grundlage von Freundschaft, Liebe, Zusammenarbeit, Miteinander-Reden usw. ist.
Die psychologische Forschung stellt dieser Intuition, die durch Lebenserfahrung, praktische Übung und Zuneigung zu den Menschen sehr verfeinert werden kann, ein wissenschaftlich gesichertes Fundament zur Verfügung. Neben dem Verhalten des Menschen in Mimik, Gestik, Sprechweise usw. wird vor allem auf das Lebensverhalten Bezug genommen, nämlich die Art und Weise, wie einer zu sich selbst (Selbsteinschätzung) und den Mitmenschen (Kontaktfähigkeit) steht.
Dies läßt sich deutlich aus dem psychologisch interpretierten Lebenslauf ablesen - man kann hierbei die Frage nach der «Gangart» eines Menschen aufwerfen und dabei abklären, wie einer sein Leben im Rahmen der mitmenschlichen Welt aufgebaut hat und wo und an welchen Problemen er gescheitert ist.
Sorgfältiges Studium derartiger Reaktionen basiert auf dem theoretischen Hintergrund des Postulates der Einheit der Persönlichkeit; oberflächliche Zwiespältigkeiten und Paradoxien erweisen sich häufig als Teilstücke eines einheitlichen (und unbewußten) Lebensplanes, welcher der Lebensgestaltung zugrunde liegt.
In der tiefenpsychologischen Menschenkenntnis liegt immer auch ein ethischer Faktor, indem man andere Menschen nur soweit verstehen kann, als man sie liebt, und man liebt besser, je besser man versteht.
Friedrich Liebling (1893 - 1982) war Gründer und Leiter der Psychologischen Lehr- und Beratungsstelle Zürich, auch “Zürcher Schule für Psychotherapie” genannt.
Aus der Monatszeitschrift “Psychologische Menschenkenntnis”, Heft 6 Dez. 1964, S. 210 - 218
(Titel BfL)