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In der Sprechstunde des Seelenarztes

von Friedrich Liebling (1965)

In breiten Volkskreisen herrscht heute noch eine grosse Unwissenheit über die Probleme seelenärztlicher Behandlung. Fast jedermann ist sich darüber im klaren, was körperliche Krankheiten sind und wie sie geheilt werden. Was seelische Leiden sind, darüber herrschen vage Mutmassungen. Die meisten Leute haben hier Ansichten, die absolut irrig sind. Schon der Begriff "nervös" wird in sehr vieldeutigem Sinne gebraucht. Die einen sehen im nervösen Menschen einen "Spinner", der sich und anderen das Leben schwer machen will. Solche Beurteiler machen sich die Sache allzu leicht.

In Wirklichkeit erklären die Ärzte, dass mehr als die Hälfte ihrer Patienten, die mit körperlichen Beschwerden kommen, im Grunde seelisch krank seien. Solche seelischen Störungen oder Krankheiten sind ebenso schwerwiegend wie körperliche: Schon ihre grosse Zahl und ihre praktische Bedeutung sollte uns davon abhalten, sie zu bagatellisieren. Darüber hinaus weiss jeder denkende Mensch, wie hart seelische Not uns bedrücken kann; man denke etwa an Angstgefühle, an unglückliche Beziehungen in Beruf oder Partnerschaft, an sexuelle Disharmonien, Einsamkeit, Hemmungen usw., und man wird ahnen, dass Leiden der Seele schlimmer sind als solche des Körpers.

Lange Zeit stand auch die Wissenschaft diesen Problemen machtlos gegenüber. Der nervöse Patient war ein Stiefkind der Heilkunde; man überliess ihn gerne dem "Quacksalber", den er auch heute noch infolge seines Aberglaubens und seiner Unwissenheit konsultiert.

Die Verhältnisse haben sich jedoch heute bereits grundlegend gewandelt. Wir haben gegenwärtig schon eine wissenschaftlich aufgebaute Seelenheilkunde, so dass wir durchaus imstande sind, dem seelisch leidenden Menschen Hilfe zuteil werden zu lassen. Dies ist der Aufgabenbereich der sogenannten Psychotherapie, die in allen Kulturländern der Erde ihre segensreiche Wirksamkeit entfaltet.

Der Psychotherapeut oder Seelenarzt ist ein speziell ausgebildeter Psychologe oder Arzt, der auf Grund seiner Schulung die Situation eines nervösen Menschen gründlich erfassen und dadurch ihm zu einer Verbesserung verhelfen kann.

In den Umkreis der Psychotherapie fallen die Fragen der Erziehungs-. und Berufsberatung, Probleme der Liebe und Ehe, seelisch und körperliche nervöse Leiden und seelische Erkrankungen (Neurosen).

Die Tiefenpsychologie ist der Ausgangspunkt aller seelenärztlichen Bemühungen.

Die Tiefenpsychologie baut auf den Forschungen von Sigmund Freud, Alfred Adler und vielen anderen auf, die um die Jahrhundertwende den Grundstein zur wissenschaftlichen Seelenkunde gelegt haben. Diese Forscher erkannten, dass seelische Störungen nicht vererbt werden und auch nicht konstitutionell bedingt sind; sie entstammen vielmehr Kindheits- und Jugendeindrücken, unter deren Einfluss Charakter und Lebenseinstellung geschädigt werden können.

Tiefenpsychologisch gesehen ist die Art, wie jemand sein Leben führt, nichts Angeborenes, sondern das Spiegelbild seiner Erlebnisse im Jugendalter: Unwillkürlich tragen wir alle die Spuren des Glücks und Unglücks unserer Kindheit zeitlebens mit uns herum, und dies bedingt unbewusst die Gestaltung aller unserer mitmenschlichen Beziehungen.

Eifersucht im späteren Leben kann zum Beispiel die Folge von Rivalitätsgefühlen gegenüber einem Bruder oder einer Schwester sein; Ängstlichkeit kann auf Verzärtelung oder Vernachlässigung im Kindesalter zurückzuführen sein; Geiz, Neid, Schüchternheit, Gefühlskälte lassen sich ebenfalls von Erziehungseinflüssen herleiten, so dass sich allgemein feststellen lässt, dass in allen unseren Charakterschwächen, unter denen wir ebenso wie unsere Umwelt leiden, Rückstände aus unverarbeiteten und daher teilweise unbewusst bleibenden Jugendnöten sich ins Erwachsenenalter hinüberziehen.

Reifung durch Therapie

Die Tiefenpsychologie lehrt uns nun, dass alle solche Fehlhaltungen prinzipiell veränderlich sind. Kein Mensch muss ängstlich, gehemmt, aggressiv, untüchtig, einzelgängerisch, sexuell unangepasst, deprimiert, negativistisch sein. Wenn wir organische Schäden und Schwachsinn ausschliessen können, handelt es sich dabei in derartigen Fällen immer um ungünstige Einstellungen zum Leben, die durch seelenärztliche Therapie verbessert werden können.

Die Tragweite dieser Zusammenhänge ist besonders gross, weil seelische Unangepasstheit auch auf den Körper ausstrahlt und dort, wie bereits erwähnt, Krankheiten verursachen kann. Wer sich dann vom Seelenarzt behandeln lässt, wird mit Staunen erkennen, wie stark er seine Lebensführung verändern kann; im Verlaufe einer solchen Therapie nimmt man eine neue Haltung gegenüber allen menschlichen Problemen an, die man unbelastet von Kindheitsballast souveräner zu lösen lernt.

Oft wird die Erfahrung gemacht, dass Menschen aus der nächsten Umgebung eines Ratsuchenden in der psychotherapeutischen Behandlung diesen nach einiger Zeit als völlig verändert ansehen: Sie beobachten eine Reifung und Klärung, die sie kaum für möglich gehalten hätten.

Methoden und Schwierigkeiten der Psychotherapie

In unserem Lande stehen einer Durchführung von seelenärztlichen Behandlungen auf weitläufiger Grundlage noch grosse Widerstände entgegen. Einer der unüberwindlichsten ist wohl der, dass wir nur wenige gut ausgebildete Spezialisten haben und dass diese unter einer enormen Arbeitsbelastung stehen.

Der Seelenarzt kann nicht wie mancher Kollege von der Körpermedizin am Tag 30 bis 40 Patienten empfangen; er muss sich jedem Einzelfall länger widmen, wobei in der Regel eine Konsultation etwa 45 bis 60 Minuten dauert. Die Auseinandersetzung mit nervösen und konfliktbeladenen Menschen stellt hohe seelische Anforderungen und braucht einen Energieeinsatz (im Sinne von Mitgefühl und intuitiver Einfühlung in jedem Fall) besonderer Art: daher kann der Psychotherapeut nur wenige Menschen in Behandlung nehmen.

Keine falsche Scham

Ein weiteres Hindernis liegt darin, dass die meisten Leute aus Unkenntnis kritisch der Seelenheilkunde gegenüberstehen. Viele meinen, man müsse sich doch selbst helfen. Dem liegt der weitverbreitete Irrtum zugrunde, dass man Gefühlsprobleme bei sich selbst durchschauen könne; indessen lehrt aber die Tiefenpsychologie, dass hier unbewusste Faktoren ins Spiel kommen, so dass jeder, auch der kluge Mensch, diesbezüglich in einem Labyrinth herumtappt.

Selbsthilfe ist in seelischer Not häufig unmöglich. Es ist aber auch keine Schande, fremde (fachliche) Hilfe hierfür in Anspruch zu nehmen.

Es lässt sich an dieser Stelle nur wenig über das Vorgehen bei solchen Behandlungen sagen. Die Methode ist die freie Aussprache zwischen Psychotherapeut und Ratsuchendem; sie untersuchen gemeinsam als gleichwertige Gesprächspartner die Nöte und Schwierigkeiten, die letzteren in seinem Leben und Fortkommen hemmen.

Mit grossem Takt und umfassendem Wissen über die seelische Problematik ausgestattet, ist der Seelenarzt in der Lage, im Gespräch eine Stimmung zu schaffen, in der der Gesprächspartner Klarheit über sein Leben gewinnt. Aus dem Wissen um die eigenen Reaktionen und die Psyche der Mitmenschen, was man als "Menschenkenntnis" zusammenfassen kann, erlangt der Schüler des Psychotherapeuten eine innere Überlegenheit, die ihn nicht nur von seinen Störungen befreit, sondern ihn überhaupt zu einem innerlich ausgeglichenen, klar denkenden und fühlenden Menschen macht.

Die Dauer solcher Behandlungen schwankt mit der Schwere der Probleme, die in ihr erörtert werden müssen. Leider fällt auch das finanzielle Problem ins Gewicht: Da der Seelenarzt nur wenige Patienten annehmen kann, muss er für eine Behandlungsstunde ein Honorar von 50 Franken (1965!) und mehr berechnen. Die Krankenkassen sind heute schon bereit, einen Anteil an solche Kuren zu zahlen.

Dem unorientierten Betrachter erscheinen die Unkosten immer noch hoch; aber wer eine Ahnung von seelischen Verstrickungen hat und auch weiss, welchen menschlichen Aufwand es erfordert, einen Menschen daraus zu befreien, ist sich auch bewusst, dass man die hingebungsvolle und schwierige Arbeit des Seelenarztes gar nicht mit Geld zu entlöhnen vermag.

Friedrich Liebling
Friedrich Liebling (1893 - 1982) war Gründer und Leiter der Psychologischen Lehr- und Beratungsstelle Zürich, auch “Zürcher Schule für Psychotherapie” genannt.

Quelle: Aus Friedrich Liebling, Aufsätze 1992 ISBN 3-906989-0
Quellennachweis: Wir Brückenbauer 22/43, S.6. Sowie in: Psychologische Menschenkenntnis 1/1964-65, S. 277-280

Erziehung, Psychologie, Menschenbild

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