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Einführung statt Führung - Begrifflichkeiten und Menschenbild

Was Hänschen nicht lernt…

Von Fiorenza Piraccini*

Wenn es um Erziehung geht, schleppen wir jahrhundertealte, historisch verankerte und kulturell angewandte Vorstellungen mit uns herum. Die Autorin setzt sich mit diesen Überlieferungen auseinander, indem sie sie seziert. Und sie formuliert einen adlerianischen Gegenentwurf, der es ermöglicht, mit diesen Traditionen zu brechen.

Eine alte Volksweisheit besagt: „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.“ Volksweisheiten besitzen oft einen wahren Kern. Doch wollten wir diese Aussage einer Prüfung am heutigen Stand der Wissenschaft unterziehen, so müssten wir als erstes feststellen, dass sie den gesammelten Erkenntnissen der Hirnforschung nicht standhalten kann: Aus unzähligen wissenschaftlichen Untersuchungen und Studien wissen wir heute, dass das Hirn bis ins hohe Alter plastisch ist – und der Mensch somit bis an sein Lebensende lernfähig.1

Der Mensch, ein lernendes Wesen

Nebst der Prämisse also, dass der Mensch überhaupt lernfähig ist, enthält die besagte Redewendung allerdings eine über die Jahrhunderte empirisch gewonnene Erkenntnis, die bis heute ihre Gültigkeit hat: Der Mensch entwickelt sich – und was der Erwachsene zur Verfügung hat, hat im Wesentlichen damit zu tun, was er während dieser Entwicklung, insbesondere während seiner Kindheit, gelernt hat.

Hans ist also nicht als Hans auf die Welt gekommen, sondern als Hänschen. Aus diesem Zusammenhang abzuleiten, dass Hans kategorisch nicht mehr lernen kann, was Hänschen nicht gelernt hat, wäre allerdings ein Fehlschluss.

Warum aber hält sich ein solches Sprichwort wider besseres Wissen so hartnäckig?

Die Redewendung widerspiegelt ein Menschenbild und damit verbundene Überzeugungen, die in der Tradition der autoritären Erziehung stehen, die aber die heutige Kenntnis über die menschliche Natur ausser Acht lassen.

Die Tradition des alten Menschenbildes reicht weit zurück, aber bis in die modernen Wissenschaften hinein. Von Kindern als Tyrannen, über einen angeborenen Aggressionstrieb bis hin zu dem in der Voraufklärung bekannt gewordenen, ursprünglich römischen Ausspruch, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei2, durchzieht ein und dieselbe Vorstellung wie ein roter Faden unsere Kulturgeschichte: Die Vorstellung, dass dem Menschen etwas genuin Böses innewohne, das es ihm durch eine angemessene Erziehung auszutreiben gelte oder das zumindest durch Regeln und Gesetze eingedämmt werden müsse.

Aus dieser Vorstellung leitet sich die Überzeugung ab, dass der Mensch zum Gehorsam erzogen werden muss – und dies am besten schon beizeiten, denn der Volksmund weiss: „Wehret den Anfängen!“ – dass der Mensch andernfalls nicht kooperiert, renitent wird, dass er überbordet oder sein Egoismus freien Lauf nimmt.

Muss man Kindern Grenzen setzen?

Der Psychiater Morton Schatzmann beschreibt in seinem Buch „Die Angst vor dem Vater“3 eindrücklich am berühmten Fall Schreber die verheerenden psychischen Folgen der autoritären Erziehung.

Schrebers Vater hatte einst den im 19. und frühen 20. Jahrhundert als Standardwerk geltenden Erziehungsratgeber publiziert, worin er das unerbittliche Austreiben falscher Regungen bei Kindern in den ersten drei Lebensjahren propagierte, unter Rückgriff auf Strenge und körperliche Züchtigung. Das Kind werde sich später nicht mehr daran erinnern, doch genüge fortan ein Blick, und das Kind werde Gehorsam zeigen. Morton Schatzmann trägt Textauszüge aus dem Ratgeber des Vaters zusammen und stellt sie den paranoiden Wahnfantasien des Sohnes gegenüber, wodurch erschreckende Entsprechungen erkennbar werden.

Während in früheren Jahrhunderten also noch davon die Rede war, dem Kind den Willen zu brechen oder gar den Teufel auszutreiben, spricht man heute gerne von der Notwendigkeit, Grenzen zu setzen. Das zugrundeliegende Menschenbild aber ist damit noch nicht wesentlich in Frage gestellt.

Spätestens an diesem Punkt stellt sich das Problem der Begrifflichkeiten.

So wirkt der Begriff der Führung durch seine (vielleicht nicht zufällige) Nähe zum militärischen Vokabular und damit zum autoritären Prinzip im erzieherischen Kontext befremdend oder gar irreführend. Zu bevorzugen wäre der Begriff der Einführung.

Der Mensch – insbesondere das Menschenkind – ist geradezu angewiesen auf eine angemessene Einführung ins gemeinschaftliche Zusammenleben, wobei sich die Angemessenheit nicht allein am Inhalt, sondern gleichermassen an der Art und Weise der Vermittlung misst.

Die natürliche Soziabilität der menschlichen Natur

Bereits aus den frühen Untersuchungen der Bindungsforschung ist bekannt, dass eine feinfühlige, akzeptierende und auf Kooperation angelegte Interaktion der Bezugspersonen mit dem Neugeborenen von grösster Wichtigkeit ist für den Aufbau einer sicheren Bindung. Um aber die entsprechende Entwicklung seiner sozialen Natur in Gang zu bringen, „muss die soziale Prädisposition des Neugeborenen erst ‚passende’ Erfahrungen mit fürsorglichen anderen“4 machen. Das heisst, die im Menschen angelegte, auf Kooperation ausgerichtete Interaktionsbereitschaft muss gefördert werden.

Dies setzt mitunter voraus, dass die Erwachsenen in der Lage sind, die Signale des Säuglings oder später des Kleinkindes richtig zu interpretieren. Doch auf welcher Grundlage soll diese Interpretation erfolgen? Sie wird anders ausfallen, wenn sich die Erzieher der sozialen Natur des Menschen und somit auch ihres Kindes sicher sind5; wenn sie sich zudem sicher sind, dass das Kind vollkommen auf sie als seine Bezugspersonen ausgerichtet ist,6 als wenn sie glauben, dass das Kind provozieren, seine Grenzen ausloten oder seinen Willen durchsetzen will. Denn diese Sicherheit wird ihnen helfen, jedes Verhalten des Kindes als das Bestreben und den bestmöglichen Versuch im Rahmen seiner physischen und psychischen Möglichkeiten aufzufassen, sein psychobiologisches Wohlbefinden herzustellen oder aufrechtzuerhalten7 – Und für dieses Wohlbefinden ist die Zuwendung der Eltern eine wesentliche Voraussetzung.

Die Kooperationsfähigkeit des Menschen

Genau hierbei können falsche kulturelle Vorstellungen über die Natur des Menschen eine verheerende Tragweite entfalten. Eine der anspruchsvollsten Aufgaben, die Erziehung, wird ungleich schwieriger, wenn die ohnehin mit ihren eigenen Gefühlen konfrontierten Erzieher von falschen Theorien ausgehen müssen.

So sucht das kleine Kind beispielsweise nicht einfach Grenzen, sondern Resonanz und ein kooperatives Gegenüber. Auch vordergründig unkooperatives Verhalten des Kindes kann vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen durchaus kooperativ sein. Denn so wie der Mensch von Geburt an die Sprache seiner Bezugspersonen erlernt, lernt er gleichsam die soziale Sprache seines Umfeldes zu sprechen.

Hierbei ist entscheidend, was wir als Erzieher und als Gemeinschaft dem neuen Mitglied beibringen können, welche Einführung wir ihm bieten können, damit es sich bestmöglich im gemeinschaftlichen, kooperativen Zusammenleben zurechtzufinden lernt, dazu beitragen kann und sich auf diese Weise zugehörig, verbunden und aufgehoben fühlt.

Mit diesem Ziel vor Augen wird aber auch die Untauglichkeit einer „Laissez-faire“-Erziehung deutlich, da sie dem natürlichen Bedürfnis des Kindes nach kooperativer Interaktion ebenso wenig entspricht wie die autoritäre Erziehung.

Die Bindungsforschung hat eindrücklich dargelegt, wie das kleine Kind von Anbeginn seines Lebens nach Zuneigung, Fürsorge und Schutz sucht, wie es gleichzeitig neugierig lernen, explorieren, seine physikalische Welt erkunden und mit seinem sozialen Umfeld in Interaktion treten will.8 Dabei benötigt es eine angemessene Einführung und später eine wohlwollende Anleitung.

Die Bedeutung von Kultur und Menschenbild

Unsere Sprache, unsere Begriffe sind emotional codiert.9 Hören wir also das Wort „Führung“, so werden kognitiv-emotional damit verknüpfte Konzepte aktiviert.

Wir betreiben keine linguistische Wortklauberei, wenn wir die Frage nach dem Sinn oder Unsinn eines Ausdrucks wie demjenigen der Führung in der Erziehung aufwerfen, sondern wir regen eine weltanschauliche Auseinandersetzung an, indem wir die Frage nach seinem Hintergrund stellen: Nicht der Begriff der Führung an sich steht zur Diskussion, sondern das Menschenbild, das er reflektiert. Wir stellen somit die grundlegende Frage, auf welchem Menschenbild wir die Erziehung aufbauen sollen.

Falsche kulturelle Vorstellungen – und dazu gehören auch falsche Menschenbilder – „bergen das Risiko, dass aus dem sozialen Neugeborenen ein asozialer, unkooperativer, psychisch beeinträchtigter Mensch wird, der sich der Gesellschaft nicht verpflichtet fühlt.“10

Deshalb lohnt es sich, einmal mehr über eine der grundlegendsten Haltungen fürs gemeinschaftliche Zusammenleben zu reflektieren und einen entsprechend sensiblen Umgang mit der Sprache zu pflegen. Nicht, um einem stilistischen Anspruch Genüge zu tun, sondern um klar zum Ausdruck zu bringen, auf der Grundlage welcher emotional getragenen, weltanschaulichen Haltung die Diskussion geführt werden soll.

Was Hänschen lernt, hat also nicht nur damit zu tun, was ihm beigebracht wird, sondern auch wie und mit welcher Gefühlshaltung wir es ihm beibringen. Dabei ist von entscheidender Bedeutung, dass wir Hänschen richtig sehen und verstehen – als ein Wesen also, das auf eine kooperative Interaktion angelegt ist, die es zu fördern gilt.
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Literatur

  • Ainsworth, M. D. S. (1967). Infancy in Uganda. Infant care and the growth of love.
  • Bauer, J., & Hauser, A. (2006). Prinzip Menschlichkeit: Warum wir von Natur aus kooperieren. Hamburg: Hoffmann und Campe.
  • Bowlby, J. (1969). Attachment and Loss (Vol. I). New York: Basic.
  • Därmann, I. (2011). On the animal and the human. Martin Heidegger, Jacques Derrida and the question of zoology. Zeitschrift für Kulturphilosophie, 2011(2), 303-325.
  • Grossmann, K., & Grossmann, K. E. (2014). Bindungen - das Gefüge psychischer Sicherheit. Klett-Cotta.
  • Hassenstein, B., & Hassenstein, H. (1973). Verhaltensbiologie des Kindes. München: Piper.
  • Jäncke, L. (2009). The plastic human brain. Restorative neurology and neuroscience, 27(5), 521-538.
  • Jäncke, L. (2014). Das plastische Hirn. Lernen und Lernstörungen.
  • Kaufmann, L., & von Aster, M. (2013). Geistig fit im Alter? Lernen als lebenslanger Entwicklungsprozess. Lernen und Lernstörungen, 3, 129 – 130
  • Koukkou, M., & Lehmann, D. (1998). Ein systemtheoretisch orientiertes Modell der Funktionen des menschlichen Gehirns und die Ontogenese des Verhaltens: eine Synthese von Theorien und Daten.
  • Lersch, P. (2013). Der Mensch als soziales Wesen: eine Einführung in die Sozialpsychologie. Springer-Verlag.
  • Schatzman, M. (1978). Die Angst vor dem Vater: Langzeitwirkung einer Erziehungsmethode; eine Analyse am Fall Schreber. Rowohlt.
  • Smith, G. S. (2013). Aging and neuroplasticity. Dialogues in clinical neuroscience, 15(1), 3.
  • Merzenich, M., Nahum, M., & van Vleet, T. (2013). Changing brains: Applying brain plasticity to advance and recover human ability (Vol. 207). Elsevier.
  • Young, J. Z. (1989). Der Mensch als soziales Wesen. In Philosophie und das Gehirn (pp. 272-276). Birkhäuser Basel.

1 Siehe dazu z.B.: Jäncke, 2009, 2014; Kaufmann & Aster, 2013; Merzenich, Nahum, vanVlee, 2013; Smith 2013
2 Därmann, 2011
3 Schatzmann, 1978
4 Grossmann & Grossmann, 2014
5 Zur sozialen Natur des Menschen siehe z.B.: Bauer & Hauser, 2006; Lersch, 2013; Young, 1989
6 Bowlby, 1969
7 Koukkou & Lehmann, 1998
8 Grossmann & Grossmann, 2014; siehe auch Ainsworth, 1967
9 Koukkou & Lehmann, 1998
10 Hassenstein, 2006
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Fiorenza Piraccini 2
*Fiorenza Piraccini, Psychologin MSc, arbeitet als delegierte Psychotherapeutin in einer Gemeinschaftspraxis in Meilen. Nach abgeschlossenem Studium der Architektur an der ETH Zürich hat sie an der Universität Zürich Klinische Psychologie studiert, wo sie zurzeit nebenberuflich eine Dissertation schreibt.
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”Frag nicht, was das Leben dir gibt, frag, was du gibst”.
Alfred Adler (1870 - 1937)

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Quelle: SGIPAaktuell, Magazin der Schweizerischen Gesellschaft für Individualpsychologie nach Alfred Adler, März 2017, S. 25 - 27 | www.alfredadler.ch
Titel: Beratungsstelle für Lebensfragen

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