Skip to main content

Der Einfluss der verwöhnenden und verzärtelnden Erziehung auf die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit

Eine Untersuchung zur Individualpsychologie

Von Barbara Oehler – Dissertation bei Prof. Dr. Detlev v. Uslar, 1977

Unter Verwöhnung ist ein Erziehungsstil zu verstehen, eine umfassende Einstellung, eine Haltung der Eltern, besonders der Mutter, die sich ständig auf das Kind auswirken. Verwöhnung und Verzärtelung können in diesem Sinne zu einem Erziehungsklima werden, das man vergleichen könnte mit der tropischen Temperatur eines Treibhauses.

Verwöhnung darf keinesfalls verwechselt werden mit echter emotionaler Zuwendung, denn diese stärkt das Kind in seiner Fähigkeit zur tätigen Auseinandersetzung mit den Aufgaben des Lebens, sie bietet ihm den nötigen Beistand und Rückhalt. Der Verwöhnende dagegen schwächt das Kind, indem er es von einer aktiven Lebensbewältigung fernhält.

Buch Oehler Verwöhnung VerzärtelungDie Dissertation kann bei der Autorin, Dr. Barbara Hug, bezogen werden:
Preis CHF 15.00 plus Porto
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

EINLEITUNG

Die menschliche Persönlichkeit steht in ihrer individuellen, ganzheitlichen Eigenart in einem erlebenden und handelnden Wechselbezug zur Welt. In diesen Werdeprozess geht eine Vielfalt von Faktoren ein, wobei für die Psychologie hauptsächlich drei wirkende Kräfte von Bedeutung sind: anlagebedingte Ausstattung, Prägung durch die Umwelt und Spontaneität: der Freiheitsspielraum des Individuums, schöpferisch, aktiv in die Entwicklung einzugreifen.

Die menschliche Variabilität und die Reichhaltigkeit der Aspekte in der Persönlichkeitsentwicklung hatten zur Folge, dass die 'Persönlichkeit' zu einem Grundbegriff fast aller psychologischen Disziplinen wurde, die sich mit dem Werden und dem Sosein eines Menschen befassen: Persönlichkeitspsychologie, Entwicklungspsychologie, Psychopathologie und pädagogische Psychologie.

In der vorliegenden Arbeit wird es darum gehen, einen dieser mannigfaltigen Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung ganz umfassend zu analysieren. Der verwöhnende und verzärtelnde Erziehungsstil in all seinen Variationen und sich daraus ergebende Beeinträchtigungen und Schwächungen im Entwicklungsprozess, in der Formung des Kindes, werden Gegenstand dieser Arbeit sein. Dabei resultiert das Gesamtbild, das ich entwerfen werde, aus einer Zusammenschau von Kasuistiken und übergreifenden Linien der Entwicklung des verwöhnten und verzärtelten Menschen.

Diese Untersuchung lehnt sich an die von Alfred Adler geschaffene Lehre, die er 'Individualpsychologie' nannte, an. Hier steht seine Auffassung vom Menschen als gemeinschaftsbezogenem Wesen im Vordergrund, und in dem Sinn werden gesunde oder kranke Erscheinungsformen des menschlichen Seelenlebens von dem Mass abhängen, in dem der Mensch fähig ist, die Fragen des Lebens sinnvoll zu beantworten.

Einer Störung der Fähigkeit gemeinschaftlichen Verhaltens können ausserordentlich divergente Ursachen zugrunde liegen. Wie diese Arbeit aufzeigen soll, kann einer der Gründe in einem verwöhnenden und verzärtelnden Erziehungsverhalten liegen, welches in den letzten Jahren von vielen Eltern zunehmend praktiziert wird. Diese ansteigende Tendenz ist m.E. vor einem historischen Hintergrund zu betrachten:

  • Bei jungen Eltern ist eine Neigung zu erkennen, ihre Kinder antiautoritär, d.h. ohne Zwang, ohne Gewalt und möglichst ohne Versagungen emotioneller oder materieller Art zu erziehen. Anlass dazu gaben u.a. die Untersuchungen amerikanischer Forscher zum Problem der Aggressivität. Diese stellten die These auf, dass jede Frustration eine aggressive Reaktion hervorrufe. Amerikanische Eltern nahmen dies zur Kenntnis und versuchten, dem Kind jede mögliche Versagung zu ersparen; die Folge war eine masslose Verwöhnung und Verhätschelung des Kindes.
  • Es sollte sich herausstellen, dass aus einer solchen, frustrationsarmen Erziehung Kinder hervorgingen, die ungeheuer aggressiv und unangepasst waren ‚ und die sich nicht in die Gemeinschaft einordnen konnten. Diese Eltern hatten es versäumt, dem Kind eine orientierende und führende (anleitende) Begleitung zu geben.
  • Ein weiterer Grund für die zunehmende Verbreitung eines antiautoritären Erziehungsstils liegt meiner Ansicht nach in der Tatsache einer jahrhundertelang praktizierten, übermässigen Strenge und Härte in der Kindererziehung. In der psychologischen Forschung deckte man die Schäden auf, die die Erziehung durch Strenge und falsch verstandene Autorität in der kindlichen Seele verursachte. Interessierte Eltern nahmen diese Informationen auf, leider schlug nun das Pendel der Erziehungsmassnahmen in die Gegenrichtung aus, und sie begannen, das Kind zu verwöhnen.

Unter Verwöhnung ist nun nicht ein eingeschränkter Erziehungseinfluss zu verstehen, sondern eine umfassende Einstellung, eine Haltung der Eltern, besonders der Mutter, die sich ständig auf das Kind auswirken. Verwöhnung und Verzärtelung können in diesem Sinne zu einem Erziehungsklima werden, das man vergleichen könnte mit der tropischen Temperatur eines Treibhauses. Verwöhnung bedeutet ein überängstliches Bewahren des Kindes, ein Fernhalten aller sich stellenden Probleme, ein immerwährendes Eingehen auf alle kindlichen Wünsche, kurz, das Kind erlebt eine vollkommen irreale Welt, in der die 'Diktatur seines Willens' ohne Widerspruch herrscht. Verwöhnung darf keinesfalls verwechselt werden mit echter emotionaler Zuwendung, denn diese stärkt das Kind in seiner Fähigkeit zur tätigen Auseinandersetzung mit den Aufgaben des Lebens, sie bietet ihm den nötigen Beistand und Rückhalt. Der Verwöhnende dagegen schwächt das Kind, indem er es von einer aktiven Lebensbewältigung fernhält.

Psychologen und Pädagogen, die auf tiefenpsychologischer Grundlage arbeiten, verwenden heute für diese Erziehungseinflüsse den Begriff der 'Overprotection'. Da diese Problematik in der psychologischen Forschung der letzten Jahre intensiver diskutiert wurde, scheint es mir von grossem Wert, genauer zu untersuchen, wie sich in der Individualpsychologie Alfred Adlers der Einfluss der verwöhnenden und verzärtelnden Erziehung auf die gesunde und kranke Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit darstellt. Adler deckte schon im ersten Drittel unseres Jahrhunderts die Schädlichkeit dieses Erziehungseinflusses auf.

Leider aber sind seine Gedanken zu diesem Fragenkomplex im Verlauf der wissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahre noch nicht genügend berücksichtigt worden, obwohl sie viele, grundlegend wichtige Erkenntnisse enthalten. In dieser Arbeit geht es mir darum, Adlers Überlegungen zum Problem der Verwöhnung umfassend zu untersuchen, um damit einen Beitrag dazu zu leisten, dass diese vermehrt den ihnen zukommenden Stellenwert in der Psychologie einnehmen.

Um zum Verständnis der Tatsache zu gelangen, dass Adler so viele pathologische Erscheinungsformen mit der Verwöhnung in Zusammenhang bringt, erschien es mir nötig, Adlers Meinung dazu in das Ganze seiner Lehre einzuordnen.

Diese Untersuchung ist so aufgebaut, dass nach einer abrisshaften Skizzierung der Grundbegriffe, einer Definition von Verwöhnung und Verzärtelung, konkret auf die Entstehungsbedingungen einer verwöhnenden Haltung eingegangen wird, die Gesamtsituation des verwöhnten Kindes analysiert wird und auch die Schulsituation des verwöhnten Kindes einer Betrachtung unterzogen wird.

Der Auswirkung auf die von Adler postulierten drei Lebensgebiete, im Bereich des Gesunden, wird der zweite grosse Hauptteil gewidmet sein. Anschliessend daran befasst sich der dritte Abschnitt mit dem Gebiet der seelischen Pathologie, der Neurose und der Psychose.

Bei der Bearbeitung der Fragestellung stützte ich mich auf die Werke Adlers und seiner Schüler und engeren Mitarbeiter wie Wexberg, Orgler, Kronfeld, Spiel, Lazarsfeld und Seif. Die zwanzigbändige Ausgabe der Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie ermöglichte mir einen tiefen Einblick in die Reichhaltigkeit der individualpsychologischen Lehre. Hier fand ich zahlreiche Ausführungen zum Thema der Verwöhnung.

Individualpsychologische Artikel und Vorträge wurden auch in medizinischen und pädagogischen Zeitschriften veröffentlicht, wobei diese oft sehr schwer ausfindig zu machen waren, da sehr wenige Bibliotheken darüber verfügen, und die bibliographischen Angaben oft mangelhaft sind.

Ich habe vor allem auf diejenigen Werke der Individualpsychologen Gewicht gelegt, die zu Lebzeiten Adlers publiziert wurden, da ich die Ansichten von Adlers engeren Mitarbeiterkreis zum Problem der Verwöhnung wiedergeben wollte.

Obwohl die verwöhnende und verzärtelnde Erziehung einen zentralen Punkt im Werke Adlers darstellt, fehlte bisher eine umfassende Zusammenstellung und Bearbeitung dieses Aspektes, der heute, wie eingangs erwähnt, zum Verständnis der Schattenseiten der antiautoritären Strömung in der Kindererziehung einen aufschlüsselnden Beitrag leisten kann.

In der vorliegenden Arbeit wurde nun die Auswertung und Nutzbarmachung der individualpsychologischen Befunde in bezug auf die verwöhnende und verzärtelnde Erziehung versucht, und sie begreift sich daher ebenso als Ergänzung zur Literatur über Adler, als, auch als Befruchtung und Anregung erzieherischer Theorie und Praxis.
__

INHALTSVERZEICHNIS

EINLEITUNG                                                                                                                      1

  1. EINFUEHRUNG IN DAS BEGRIFFSSYSTEM DER INDIVIDUALPSYCHOLOGIE 6
  2. Zum Begriff der Verwöhnung und Verzärtelung 6
  3. Das verwöhnende Erziehungsklima am Beispiel ‘Oblomows' 7
  4. Der verzärtelte Lebensstil als Resultat sowohl der verwöhnenden als auch der vernachlässigenden Erziehung 7
  5. Persönlichkeitstheorie, Charakterkunde und Erziehungslehre der Individualpsychologie 8
  6. Persönlichkeit als zielgerichtete Einheit 8
  7. Minderwertigkeitsgefühl 10
  8. Kompensation und Ueberkompensation 12
  9. Geltungsstreben 14
  10. Gemeinschaftsgefühl 16
  11. Wesen und Entstehung des Charakters 20
  12. Erziehungskonzeption der Individualpsychologie 25
  13. URSACHEN DER VERWOEHNENDEN ERZIEHUNGSHALTUNG UND IHRE AUSWIRKUNGEN BEIM 'GESUNDEN' INDIVIDUUM 35
  14. Verwöhnung und Verzärtelung 35
  15. Die verwöhnende und verzärtelnde Erziehungshaltung 35
  16. Die Feststellung der Verwöhnung und Verzärtelung anhand der ersten Kindheitserinnerungen und der Träume 36
  17. Die Feststellung der Verwöhnung und Verzärtelung anhand der Kinderfehler und der Symptombilder 38
  18. Bedingungen, die die Verwöhnung und Verzärtelung begünstigen können 43
  19. Charakterentwicklung und Fehlhaltungen, die sich aus der verwöhnenden und verzärtelnden Erziehung ergeben 54
  20. Charakterzüge des verwöhnten Kindes 55
  21. Das verwöhnte und verzärtelte Kind in der Schule 60
  22. Die Stellungnahme des Verwöhnten zu den drei Lebensaufgaben 66
  23. PSYCHISCHE ERKRANKUNG ALS MOEGLICHES RESULTAT EINER VERWOEHNENDEN ERZIEHUNGSHALTUNG 82
  24. Individualpsychologisches Konzept seelischer Fehlschläge unter dem Aspekt der verwöhnenden Erziehung 82
  25. Allgemeine Betrachtungen 82
  26. Verwöhnung, Charakterbildung und psychische Erkrankung in ihren Zusammenhängen 86
  27. Neurose und verwandte psychische Störungen 93
  28. Neurose im Verständnis der Individualpsychologie - ein Abriss 93
  29. Ausprägungsarten der Neurose, resultierend aus einem verwöhnenden Erziehungsklima 96

III. Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Neurose und Psychose 117

  1. Allgemeine Betrachtungen 117

SCHLUSSBETRACHTUNGEN 133
ANMERKUNGEN 141
Zu Kapitel A 141
Zu Kapitel B 144
Zu Kapitel C 149
LITERATURVERZEICHNIS 160 - 173
__

Die Dissertation kann bei der Autorin, Dr. Barbara Hug, bezogen werden:
Preis CHF 15.00 plus Porto
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Beiträge

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.