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Alfred Adlers Persönlichkeitstheorie kurz erklärt

Alfred Adler (1870 bis 1937) begründete eine der drei klassischen tiefenpsychologischen Schulen neben Sigmund Freud und Carl Gustav Jung. Adler nannte seine Lehre des Unbewussten „Individualpsychologie“.

von Diethelm Raff*, Psychologe FSP

Geschätzte Leserin, geschätzter Leser,
Der Mensch hat eine Sozialnatur, er kommt mit einer grossen Lernfähigkeit zur Welt und möchte von Natur aus gerne kooperieren. Dies haben die Psychologen vor gut 100 Jahren erkannt und zu erforschen begonnen. Der beiliegende Text beleuchtet sehr gut die Arbeit und die Erkenntnisse des Psychologen Alfred Adlers, dessen Werk wir unseren Lesern sehr empfehlen möchten. Herzlich Margot und Willy Wahl

Er wollte mit dieser Bezeichnung das In-dividuum betonen, die Unteilbarkeit der menschlichen Persönlichkeit und grenzte sich damit bewusst von Persönlichkeitstheorien ab, die den Menschen in verschiedene Instanzen unterteilen wollten.

Adler geht davon aus, dass seelische Probleme niemals losgelöst vom gesamten Kontext der Persönlichkeit betrachtet werden dürfen. Den Charakter eines Menschen erklärt Adler weitgehend aus seiner Stellung in der Gemeinschaft, aus seiner Beziehung zum Du. Deshalb nimmt der Begriff des Gemeinschaftsgefühls oder des sozialen Interesses einen besonders hohen Stellenwert bei Adler ein.

Er stellt sogar fest, dass die seelische Gesundheit des Menschen daran gemessen werden kann, wie weit sein Gemeinschaftsgefühl entwickelt ist, also wie der Mensch als einzigartiges Individuum gefühlsmässig mit seinen Mitmenschen, ja mit der Menschheit, verbunden ist. Adler drückt diese im Gefühl verankerte Fähigkeit oder diesen sinnstiftenden Persönlichkeitsaufbau mit folgenden Worten aus:

“Mit den Augen eines anderen sehen, mit den Ohren eines anderen hören, mit dem Herzen eines anderen fühlen”

Jeder Mensch bildet vor allem in den ersten Lebensjahren eine eigene Art aus, anstehende Probleme zu bewältigen, einen Lebensstil. Adler betrachtet den Menschen nicht nur als Reflex auf die Einflüsse der Aussenwelt, sondern als eine schöpferische Auseinandersetzung des Individuums mit seiner Umwelt. Er entwickelt eine meist unbewusste Art, das Leben zu bewältigen.

Das seelische Geschehen kann deshalb nicht dadurch verstanden werden, dass man die Einflüsse auf das Kind oder den Erwachsenen erfasst. Man muss die individuelle Antwort darauf erkennen. Daher wird auch verständlich, dass Kinder aus demselben Elternhaus ihr Leben sehr unterschiedlich gestalten.

Diese Antwort des Einzelnen auf seine Umwelt besteht auch in Zielen, die sich der Mensch bewusst und unbewusst steckt. Diese Ziele sind gefühlsmässig verankert. Mit der Erfassung der Lebensziele erkennen die Individualpsychologen im oft widersprüchlichen Verhalten des Menschen eine Logik, die Eigenlogik.

Adler beschreibt deshalb den Menschen auch als finales Wesen. Zum Beispiel kann die Logik des Verhaltens darin bestehen, Situationen zu vermeiden, die man als schwierig ansieht.

Der Charakter des Menschen, die Persönlichkeit, der Lebensstil, der Lebensplan oder seine Leitlinie entsteht nicht einfach aus dem Menschen selbst heraus, sondern immer innerhalb der familiären, gesellschaftlichen und kulturellen Situation.

Adler weist auf die Bedeutung der emotionalen Zuwendung für das Kind hin, ebenso legt er besonderen Wert auf die Geschwistersituation, weil mit dieser sich das Leben jedes Kindes in der Familie völlig anders darstellen kann.

Die Analyse der kulturellen Gegebenheiten führten Adler dazu, auf die Normen, Werte, Tendenzen und Zielvorstellungen innerhalb einer Kultur auf das Werden der Persönlichkeit hinzuweisen. Er untersuchte besonders die Rolle von Frau und Mann und deren Auswirkungen aufs Gefühlsleben der Menschen. Für ihn kann Gemeinschaftsgefühl dann entstehen, wenn der Mensch sich gleichwertig verbunden fühlt.

Deshalb weist er mit Nachdruck auf die verheerenden Folgen für das Gefühlsleben durch die lieblose, verwahrlosende und autoritäre Erziehung genauso wie durch die verwöhnende Erziehung hin. Adler erklärt die Gewalt in zwischenmenschlichen Beziehungen jedoch nicht einfach aus dem Charakter der einzelnen Menschen.

Ganz besonders den Krieg erklärt Adler im Gegensatz zu Freud insbesondere aus wirtschaftlichen und politischen Faktoren. (Adler,1919)

Der Mensch steht in seinem Leben vor Aufgaben, die sich dem Menschen immer stellen und deren erfolgreiche und angemessene Bewältigung die Persönlichkeit stärken. Vom einzelnen ausgehend, seinen einzigartigen Lebensstil erfassend, untersuchte er - vereinfachend gesagt - seine gefühlsmässige Stellungnahme zu den Fragen der Gemeinschaft, zur Liebe und zum Beruf.

Wenn der Mensch in einer dieser Fragen nicht, ungenügend oder ganz falsch vorbereitet ist, kann er in verschiedenen Formen der Bewegung im Leben dem Problem auszuweichen versuchen, sei es durch Zögern, durch Distanz, durch Ausweichen oder eingeengte Herangehensweise an Probleme, zum Beispiel durch Ängstlichkeit oder Depressionen.

Lebensprobleme entstehen durch den unbewussten Lebensstil als Ausdruck des Grades an Gemeinschaftsgefühl, der für bestimmte Situationen untauglich sein kann. So kann ein Kind aufgrund eines mangelnden Gemeinschaftsgefühls ein Minderwertigkeitsgefühl entwickeln. Darauf aufbauend entstehen verschiedene Versuche, dieses Minderwertigkeitsgefühl zu kompensieren, die mit dem Grad an Lebensmut zusammenhängen.

Je weiter ein Mensch mit den Mitmenschen in einer guten Beziehung steht, umso eher wird er seine Geltung innerhalb der für die Mitmenschen nützlichen Formen finden, also gemeinschaftsbezogene Lösungen finden. Adler schreibt dazu:

“Die Individualpsychologie hat mit grosser Schärfe darauf hingewiesen, dass alle seelisch unglücklichen, der Neurose oder der Verwahrlosung verfallenen Menschen aus der Reihe derer stammen, denen es nicht vergönnt war, in jungen Jahren ihr Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln und damit auch den Mut, den Optimismus, das Selbstvertrauen, die unmittelbar dem Gefühl der Zugehörigkeit zur Allgemeinheit entstammen” (Psychotherapie und Erziehung, S. 164).

Adler weist besonders darauf hin, dass der nicht verbundene Mensch seine Geltung in der Macht oder Unterwerfung suchen kann, die Menschen in Oben und Unten einteilt und bei entsprechenden Möglichkeiten Macht ausübt.

Dem Psychologen weist Adler eine Art Hilfsstellung zu: Er verhilft dem Menschen dazu, sehen zu lernen, wie er in seiner gesamten Persönlichkeit, als unteilbare Ganzheit, zu den Problemen des Lebens steht und wie er ihnen mit seinem bisherigen Lebensstil gewachsen ist oder nur teilweise oder gar nicht. In den Bereichen Gemeinschaft, Liebe, Beruf stellt sich das Problem der Gemeinschaft, der Beziehung zum Du.

Die Technik der Individualpsychologie lässt sich nur dann handhaben, wenn der Psychologe über eine profunde Kenntnis der Lebensprobleme und der Anforderungen, die ihre Lösung an das Individuum stellt, verfügt. Die Bewältigung jedes der drei Problemkreise oder Lebensgebiete erfordert zur Bewältigung einen gewissen Grad an Gemeinschaftsgefühl, eine Angeschlossenheit an das Ganze des Lebens, eine Fähigkeit zur Mitarbeit und Mitmenschlichkeit.

Der Mangel an dieser Fähigkeit führt zu den verschiedenen Formen und Graden der Fehlschläge, die sich zum Beispiel als Neurosen, Kriminalität, Verwahrlosung, Suizide, Psychosen äussern können. In diesem Falle ist es Aufgabe des Psychologen, nach der Ursache des Versagens zu forschen, das im Ausweich- oder Kompensationsmechanismus liegende Ziel zu ermitteln und den in der Kindheit liegenden Ursprung der verfehlten Stellungnahme zur Gemeinschaft in Erfahrung zu bringen.

Der Psychologe hebt den Lebensmut des Ratsuchenden, indem er dessen Gemeinschaftsgefühl verbessert. Wenn der Hilfesuchende den verfehlten Sinn, den er seinem Leben unterschoben hat, verstehen lernt, wird der Weg zur Gemeinschaft frei; dadurch erfährt er mehr Lebenssinn, der nur in einer gelungenen Verbindung mit dem Du und dem allgemeinen Wohl zu finden ist.

Adler schreibt:

“Die Aufgabe des Arztes oder Psychologen besteht in der Tat darin, dem Patienten die Erfahrung von Kontakt mit einem Mitmenschen zu vermitteln und ihn sodann zu befähigen, dieses geweckte Gemeinschaftsgefühl auf andere zu übertragen.” (Adler, Neurosen, S. 39)

Neurose ist eine dem Gemeinschaftsgefühl und der Anpassung widersprechende Gangart, einen Weg der Unversöhntheit und Mutlosigkeit, der die volle Lebensfähigkeit aufhebt.

Psychose ist der Abbruch der zwischenmenschlichen Beziehung auf der realen Ebene und der emotionale Rückgriff auf frühkindliche Erlebensweisen, die gefärbt sind durch die gesamten Erlebnisse im Leben. Die Psychosen sind genauso verstehbar wie die Neurosen. Sie sind deren Weiterentwicklung und Verschärfung.

Adler fordert aus dem Verständnis des Seelenlebens heraus Konsequenzen für jeden Erzieher, Eltern, Lehrer, Arzt und Seelsorger. Konsequenterweise hat er sich besonders für die Prophylaxe der seelischen Störungen eingesetzt. 1918 eröffnete er die erste Erziehungsberatungsstelle in Wien.

Rudolf Dreikurs baute auf diesen Erfahrungen auf und entwickelte eine Anzahl einfacher Prinzipien, mit denen die Eltern eine konkrete Anleitung erhalten, wie sie mit ihren Erziehungsschwierigkeiten fertig werden können:

“Wir empfehlen nicht, dass Eltern nachgeben oder strafen sollen. Was sie lernen müssen, ist, ein ebenbürtiger Partner für ihre Kinder zu werden, die Methoden der Kinder zu verstehen und fähig zu sein, sie zu lenken, ohne ihnen die Zügel ganz freizugeben odersie zu sehr an die Kandare zu nehmen.” (Dreikurs, S. 7)

Dreikurs weist mit Nachdruck darauf hin, dass die heutige Erziehung die politischen Veränderungen reflektieren und von Gleichwertigkeit in den Beziehungen geprägt sein muss:

“Um unseren Kindern zu helfen, müssen wir uns von der veralteten autokratischen Methode, Unterwerfung zu verlangen, abwenden und uns einer neuen Ordnung zuwenden, die auf den Grundsätzen der Freiheit und Verantwortlichkeit gegründet ist.” (Dreikurs, S. 17)

  • Adler Alfred. Psychotherapie und Erziehung. Ausgewählte Aufsätze, Fischer, Frankfurt/Main, 1982,
  • Adler Alfred. Die andere Seite -Eine massenpsychologische Studie über die Schuld des Volkes, Wien 1919,
  • Adler Alfred, Neurosen. Fallgeschichten. Fischer, Frankfurt/M. 1985,
  • Dreikurs, Rudolf/Soltz Vicki: Kinder fordern uns heraus, Klett Cotta, Stuttgart 1988,,

Diethelm Raff
*Diethelm Raff, Psychologe FSP
Psychotherapie, Paar-& Erziehungsberatung
Bruechstrasse 99
8607 Meilen
Mobil: +41 79 822 77 86
https://diethelm-raff.ch/
Mehr zum Autor

Erziehung, Psychologie, Vererbung, Menschenbild

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