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Michael Tomasello: Warum wir kooperieren

Teilen lernt nur, wer es schon kann. Was macht uns eigentlich zu sozialen Wesen, die immer auch an die anderen denken? Michael Tomasello widmet sich einer alten Frage mit empirischen Mitteln und sieht uns von Natur aus zur Zusammenarbeit begabt.

von Helmut Mayer - 03. April 2013

Beginnen wir mit den Kapuzineräffchen. Vor einigen Jahren hat ein Versuch mit ihnen, der etwas später auch mit Schimpansen durchgeführt wurde, für große Aufmerksamkeit gesorgt und ist seitdem in vielen populären Darstellungen zu finden. Die Äffchen mögen Trauben, während Gurkenstückchen auf der Skala ihrer Vorlieben deutlich darunter rangieren. Im Experiment präsentierte man zwei Äffchen zuerst Letztere, die sie auch akzeptierten. Dann allerdings bekam das eine vor den Augen des anderen, dem weiterhin nur Gurkenstückchen offeriert wurden, Trauben vorgesetzt.

Mit dem Ergebnis, dass die Trauben selbstverständlich vom ersten Äffchen akzeptiert wurden, das zweite Äffchen aber die mindere Kost der Gurkenstückchen nun ablehnte. Der Kontrollversuch habe ausgeschlossen, dass etwa nur die Präsenz der verfügbaren Trauben zur Ablehnung geführt habe. Wie anders sollte man also das Ergebnis dieses Experiments verstehen als einen verblüffenden Hinweis darauf, dass schon bei Primaten sich ein gewisser Sinn für die Fairness eines Angebots beobachten lässt?

Doch dann ließ sich dieses Ergebnis bei Versuchen in anderen Forschungseinrichtungen weder bei Kapuzineräffchen noch bei Schimpansen reproduzieren. Deren Befunde zeigten vielmehr, dass die Präsenz der höher geschätzten Nahrung durchaus ausreicht, um die beobachtete Zurückweisung zu erklären. Der soziale Effekt des Abgleichs, den Frans de Waal und seine Kollegen beobachtet zu haben glaubten, war wieder verschwunden.

Schimpansen machen keine fairen Teilungsangebote

Michael Tomasello, dessen Arbeitsgruppe am Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie de Waals Versuch mit Schimpansen wiederholte, wird dieses Ergebnis vermutlich kaum überrascht haben. Experimente, die die Nahrungskonkurrenz bei Schimpansen genauer untersuchen, lassen es nämlich erwarten. Etwa jene, in denen einer der Schimpansen ein Angebot zur Teilung von Nahrung macht, die der andere dann entweder akzeptieren oder ablehnen kann, wobei im zweiten Fall beide leer ausgehen.

Aber weder kommt ein Schimpanse auf die Idee, faire Teilungsangebote zu machen, noch lässt sich sein Mitspieler durch eine für ihn unfaire Aufteilung zur Ablehnung bewegen, solange nur irgendetwas für ihn herausspringt. Affen sind rationale Maximierer und am Teilen so gut wie gar nicht interessiert. Im Gegensatz zu Menschen, die sich von früh an hüten, allzu unfaire Angebote zu machen, weil sie wissen, dass ihre Mitspieler genauso wie sie selbst solche durchaus zurückweisen, obwohl sie dann gar nichts bekommen.

Solches Teilen ist eine Form der Kooperation und ebenso ist es das Helfen beim Bewältigen von Problemen, sei es direkt oder durch Hinweise, ohne dass daraus dem Helfer unmittelbar ein Vorteil entstünde. Schimpansen, unsere nächsten Verwandten, kennen zwar sehr bescheidene Formen der direkten Hilfe, sofern es nicht um Nahrung geht, aber die beiden anderen Formen der Kooperation finden sich bei ihnen nicht.

Mensch scheint „von Natur aus“ hilfsbereit

Ganz im Gegensatz zu Menschen, die überaus früh, nämlich schon mit Erreichen des ersten Lebensjahres, eindrucksvolle Zeugnisse ihrer Kooperationsfähigkeiten geben. Versuche mit Kleinkindern zeigen, dass sie einem Erwachsenen unaufgefordert beim Bewältigen bestimmter Tätigkeiten helfen, sei es, indem sie Hand anlegen oder ihm Informationen zukommen lassen, etwa über den Ort, an dem sich ein von ihm gesuchtes Ding befindet. Und auch das Teilen macht, selbst wenn egoistisches Verhalten manchmal die Oberhand gewinnen kann, keine besonderen Schwierigkeiten.

Diese tief angelegte kooperative Sozialität, wie sie die zwischen Primaten und Menschenkindern verschiedener Herkunft vergleichenden Experimente von Tomasellos Arbeitsgruppe vor Augen führen, ist offensichtlich ein entscheidender Faktor für die spezifisch menschliche kulturelle Evolution. Denn alle für die kulturell beschleunigte Entwicklung notwendigen Übereinkünfte, von geteilten einfachen Verhaltensnormen über symbolischen Austausch bis zu höherstufigen sozialen Institutionen, liefen ins Leere, würden sie nicht an diese primäre Kooperationsfähigkeit andocken können.

Kooperationsfähigkeit als Grundlage jeder Kultur

Und weil diese Fähigkeit sich bei Kindern in verschiedenen Kulturkreisen so früh zeigt   – teilweise noch vor dem Spracherwerb -, weil sie immun gegen Belohnungen oder Ermutigungen ist, sich ihre evolutionären Wurzeln bei Menschenaffen nachweisen lassen und sie mit elementaren Formen der Einfühlung in andere einhergeht, sieht Tomasello sie als Teil unserer natürlichen Ausstattung, auf die alle nachfolgende kulturelle Ausformung zurückgreift. Oder wie er es in seinem neuen Buch mit Rückgriff auf altehrwürdige philosophisch-anthropologische Kontroversen einmal formuliert: Rousseau mit seinem von Natur aus hilfsbereiten und mitfühlenden Menschen bekommt recht gegen Hobbes' Annahme, dass am Anfang der rücksichtsloser Egoismus stehe, der erst durch kulturelle Überformung zur Sozialität gezähmt wird.

Die konstatierte natürliche Neigung zur Kooperation hängt eng mit jenem Bündel von Fähigkeiten zusammen, die Tomasello schon lange als Alleinstellungsmerkmal des Menschen im Blick hat: die Handlungsabsichten anderer erkennen, mit ihnen Szenarien geteilter Aufmerksamkeit aufrechterhalten, ihren Geisteszustand „lesen“ zu können und dabei zu wissen, dass der andere weiß, dass man selbst weiß, dass . . .   – und so fort in einer zuletzt erstaunlich langen Sequenz. Aber die nun ins Zentrum gestellten Formen des Kooperierens bilden eigene Realisierungsformen dieser Fähigkeiten. Und so vorsichtig Tomasello auch dabei ist, wenn es um deren empirische Einkreisung geht, so entschieden weiß er über große Linien der Entwicklung zu spekulieren, wenn es um die Frage geht, wie diese Kernfähigkeiten den kulturellen Prozess menschlicher Vergesellschaftung auf die Bahn gebracht haben könnten.

Pro und Contra sorgsam abgewägt

Eine Pointe seines Ansatzes ist, sich nicht in die Frage nach der Genese altruistischen Handelns zu verbeißen, sondern auf Szenarien gemeinschaftlicher Problemlösungen als Anstoß zu setzen   – wobei niemand auf seinen Vorteil verzichten muss und alle etwas davon haben. Von dort könnte dann der Weg über die damit verknüpfte Herausbildung reziproker Erwartungshaltungen weitergegangen sein zu sozialen Verhaltensnormen im vollen Sinn und den Mechanismen ihrer Stabilisierung und Durchsetzung.

Es ist ein faszinierendes Panorama, das Tomasello so auf knappem Raum skizziert. Was den vorliegenden Band aber besonders auszeichnet, das ist der Umstand, dass ziemlich tief zielende Einwände gleich auf dem Fuß folgen. In Form von vier knappen Stellungnahmen von Forschern, auf die Tomasello sich bezieht. Die Anthropologin Joan B. Silk sieht aufgrund ihrer Feldstudien an Primaten in Tomasellos Gemeinschaftshandeln keinen wirklich plausiblen Kandidaten für den Anstoß zum kulturellen Sonderweg. Die Psychologin Carol S. Dweck gibt zu bedenken, dass man mit dem Prädikat „von Natur aus“ vielleicht doch vorsichtiger umgehen muss, denn die Formung des kindlichen Verhaltens durch die Umgebung beginne schon weit vor dem Erreichen des ersten Lebensjahres.

Elizabeth S. Spelke, auch sie eine renommierte Psychologin, sieht nicht die Sprache aus der Herstellung geteilter Bezugnahme auf Dinge hervorgehen, wie Tomasello es möchte (F.A.Z. vom 15. Januar 2009), sondern eher umgekehrt. Und der Philosoph Brian Skyrms wird denkbar grundsätzlich, wenn er die sozialen Insekten als Beleg dafür anführt, dass man für die Erklärung von Sozialität und effektiver Kommunikation doch auch mit viel weniger an hochstufiger Rationalität auskomme, als Tomasello es vorführe.

Wer sich schon halbwegs hatte überzeugen lassen von Tomasellos Grundriss, lernt auf diese Weise gleich wieder, wie schwierig dieses faszinierende Terrain tatsächlich ist. Nicht nur, was die Interpretation von Experimenten angeht   – Stichwort Kapuzineräffchen -, sondern schon mit Blick auf die Konzepte, die mit ihnen getestet werden sollen. Welche Fähigkeiten als die grundlegenden gelten können, welche sich daraus ableiten, ist alles andere als leicht festgestellt.

Es mag darum gehen, sich solche Henne-oder-Ei-Fragen ohnehin besser abzugewöhnen, um die koevolutionären Wechselspiele fest im Blick zu haben. Bloß ist das leichter gesagt, als daraus eine befriedigende Erklärung gewonnen. Denn herauszufinden, was den entscheidenden Anstoß für unseren Sonderweg gab, darum geht es ja   – und am Ende aller spekulativen Versuche lockt endlich eine empirisch gesicherte Antwort auf diese große Frage. In Tomasellos schmalem Büchlein samt Kommentaren kann man sich vorzüglich mit dieser Aussicht vertraut machen.

Quelle: F.A.Z.

„Warum wir kooperieren"

Buch Tomasello Warum

Michael Tomasello: „Warum wir kooperieren“. Aus dem Englischen von Henriette Zeidler. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2010. 141 S., br., 12,- Euro

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