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Psychologie und Weltanschauung

Auszug aus dem Kongressband zum 18. Kongress der Zürcher Schule für Psychotherapie
(12. – 25. Juli 1980)

Vorwort

Ausser den Arbeitstagungen führt die Psychologische Lehr- und Beratungsstelle Zürich seit Jahrzehnten zweimal im Jahr einen Kongress durch. Während vierzehn Tagen besprechen mehr als tausend Teilnehmer jeweils am Abend die verschiedensten Aspekte des jeweiligen Kongressthemas. Während des Tages finden Einzel- und Gruppengespräche statt, in denen die Teilnehmer Gelegenheit haben, ihre persönlichen Schwierigkeiten zu besprechen. Der Kongress bietet dem Fachmann und dem psychologisch interessierten Laien eine intensive Schulung.

Die Teilnehmer, vorwiegend Akademiker (Ärzte, Psychologen, Lehrer, Theologen usw.) kommen aus dem In- und Ausland; sie gehören den verschiedensten Auffassungen und Glaubensrichtungen an. Aus wissenschaftlichem Interesse nehmen sie am Kongress teil.

Die Gespräche finden ohne Vorsitz, Tagesordnung, Rednerliste, Redezeitbeschränkung und Verpflichtung auf das Thema statt. Die Beiträge entstehen z.T. spontan aus dem Gespräch oder werden - meistens in Gemeinschaftsarbeit - vorbereitet.

Das Thema der Abendgespräche des 18. Kongresses hiess: "Individuum und Gemeinschaft". In der vorliegenden Publikation soll ein Ausschnitt aus dem reichhaltigen Material einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden. Es handelt sich dabei um Beiträge zu einer der vielen Fragen, die im Rahmen des Kongressthemas bearbeitet wurden.

Die Publikation soll den Kongressteilnehmern ermöglichen, sich mit den vorgelegten Ergebnissen der psychologischen Forschung vertiefend auseinanderzusetzen. Dem Leser gibt sie Einblick in die psychologische Forschung und Schulung der Zürcher Schule für Psychotherapie.

Wir möchten noch hervorheben, dass die geäusserten Meinungen der Redner nicht mit denjenigen der Herausgeber übereinstimmen müssen.

1. Beitrag

Wir begrüssen alle Teilnehmer zum 18. Kongress der Zürcher Schule. Zum dritten Male befassen wir uns mit den neusten Erkenntnissen der Psychologie über die Natur des Menschen. Die Frage nach dem menschlichen Zusammenleben ist so alt wie die Menschheit selbst. Immer war der Mensch bestrebt, sich sein Leben mit Hilfe von Beobachtung und Erfahrung zu erleichtern und besser zu gestalten.

Im Laufe der Zeit haben viele Denker versucht, sich auch ein Bild über den Menschen und sein Zusammenleben zu verschaffen. Viele von ihnen kamen dabei nicht über Spekulationen hinaus. Mangels wissenschaftlicher Erkenntnisse unterliefen ihnen folgenschwere Irrtümer, in denen noch heute der grösste Teil der Menschheit befangen ist.

Der menschliche Forschergeist lässt sich trotz Glauben und Aberglauben nicht aufhalten

Zu allen Zeiten gab es aber auch Denker, die bestrebt waren, alle ihre Hypothesen rückhaltlos an der Realität zu überprüfen. Indem sie keine Meinung mitschleppten, welche der Überprüfung nicht standhielt, begründeten sie die naturwissenschaftliche Methode. Für diese Forscher gibt es keinen Gegenstand, welcher der Forschung grundsätzlich nicht zugänglich wäre, und es gibt keine Aussage, die kraft einer Autorität übernommen wird.

Die Arbeit der Zürcher Schule steht in dieser langen Tradition naturwissenschaftlicher Geisteshaltung. Alles, was sich die Menschheit im Laufe der Geschichte an wissenschaftlicher Erkenntnis erarbeitet hat, wird in unsere Forschung einbezogen. Die treibende Kraft für die Forschung ist das Streben nach Erhaltung und besserer Gestaltung des menschlichen Lebens. Im Mittelpunkt wissenschaftlicher Arbeit steht also nicht eine Idee, sondern der Mensch. Er ist das Mass aller Dinge.

Die Erforschung der Erziehungsfrage als Menschheitsfrage und als Weg zu friedlichem Zusammenleben

Da alle Menschen gleichwertig sind, haben alle den gleichen Anspruch auf Überleben und Erhöhung der Lebensqualität, unabhängig von Rasse, Geschlecht und sozialer Herkunft. Die Verwirklichung dieser humanistischen Bestrebungen ist das einzig sinnvolle und menschenwürdige Ziel jeder Forschung und Arbeit.

Der Mensch, sein Leben und das Leben jeder Kreatur sind also die massgebenden Werte für den humanistisch gesinnten Forscher. Überall auf der Welt, wo Menschen mit dieser Zielsetzung und unter Anwendung der naturwissenschaftlichen Methode forschen, werden sie auf dieselben Resultate stossen.

Die psychologische Arbeit der Zürcher Schule steht im Rahmen dieser Bemühungen um den Menschen. Die gewonnenen Erkenntnisse dienen jedem einzelnen, der sie beansprucht, zur Verbesserung seines Lebens.

Eine bedeutsame Erkenntnis ist, dass der Mensch als soziales Lebewesen bestrebt ist, in Gemeinschaft mit seinen Artgenossen in Friede und Freiheit zu leben. Eine weitere, dass der Mensch keinen Aggressionstrieb hat, dass er nicht böse ist und demnach nicht zum Guten gezwungen werden muss.

Der Zustand der heutigen Welt, die gekennzeichnet ist durch Krieg und Verderben, durch grenzenlose Armut vieler neben unermesslichem Reichtum weniger, ist das Produkt der inhumanen Geisteshaltung, in welcher der Mensch und das Leben nicht gelten. Diese menschenunwürdigen Zustände stehen im Zusammenhang mit dem irritierten Denken, Fühlen und Handeln, welche das Individuum in einer unsachgemässen Erziehung erworben hat.

In der traditionellen Erziehung, die von Gewalt, Unwissenheit und Vorurteilen geprägt ist, wird der Mensch zu einer Karikatur dessen erzogen, was er auf Grund seiner Natur sein könnte. Die Welt, in die er hineinwächst, gleicht einem Irrenhaus. Sie bietet dem Individuum kaum eine Möglichkeit, seine Irrtümer in Frage zu stellen. Im Gegenteil: Es sieht diese immer von neuem bestätigt. Die sozialen Zustände sind derart unwürdig, dass kaum ein Mensch - ob arm oder reich - seines Lebens froh werden kann. Er ist gezwungen, unter Bedingungen zu leben, die seiner sozialen Natur widersprechen.

Solange er keine Gelegenheit hat, seine Sicht von der Welt durch neue Informationen zu revidieren, bleibt er der Sklave mittelalterlicher Irrtümer. Erst durch die Erkenntnisse der Psychologie wird es dem Menschen möglich, sich ein wissenschaftliches Menschen- und Weltbild zu erarbeiten, und er kann beginnen, sein Leben und die Welt human zu gestalten.

Die Erkenntnisse der Psychologie allen zugänglich machen

Die Psychologie befreit das Denken des Menschen vom Aberglauben. Sie zeigt ihm auf, dass seine Lebensprobleme und die weitverbreitete seelische Not auf Vorurteilen beruhen und das Resultat einer Irreleitung des kindlichen Gemüts in einer unsachgemässen Erziehung sind. Auch die verheerende materielle Not hat letztlich ihre Wurzeln in solchen Irrtümern und Vorurteilen.

In der traditionellen Erziehung wird das werdende Gemeinschaftsgefühl des Kindes fehlgeleitet: Es entstehen lediglich Kümmerformen, welche dem Individuum ein natürliches und befriedigendes Zusammenleben erschweren oder gar verunmöglichen. Die heutigen Menschen sind sehr arm an Gefühl für sich selbst und ihre Mitmenschen. Unter ihren Artgenossen wähnen sie sich in Feindesland.

In der Beziehung zu einem humanistisch gesinnten Psychologen erfährt der Mensch soziales Mitgefühl. Dieses Erlebnis versetzt ihn in die Lage, selbst soziale Gefühle zu entwickeln. Das Mitgefühl für den Menschen und alle Lebewesen entsteht: Der Mensch beginnt, sich seiner Natur gemäss zu entwickeln.

Im Laufe dieses Prozesses, der viel Geduld und Ernst erfordert, beginnt der Mensch, sich auf den Boden der Vernunft und des Denkens zu begeben. Er konfrontiert seine bisherigen Meinungen und Vorurteile mit der wissenschaftlichen Sicht über den Menschen. Durch die Aufnahme neuer Gedanken verblasst die alte Anschauung. Der Mensch ersetzt seine Meinung durch Wissen. Er macht sich die Erkenntnisse der Psychologie zu eigen und gibt seine Irrtümer und Irritationen auf. Er wird Persönlichkeit.

Buch Psychologie und Weltanschauung
Psychologie und Weltanschauung
Beiträge zum 18. Kongress der Zürcher Schule für Psychotherapie
(12. - 25. Juli 1980)
Herausgeber: Psychologische Lehr- und Beratungsstelle, Leitung Friedrich Liebling, Zürich
ISBN 3-85999-002-0
(Titel: BfL)

Beiträge

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